Stressabbau kann sich unterschiedlich präsentieren. Lautes Geschrei ist aber meist kein gutes Zeichen.
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Elon Musk, seines Zeichens CEO von vier oder mehr börsennotierten Firmen, spielt zur Entspannung Videospiele. "Wenn sie genau richtig schwer sind, komme ich in einen Flow", erzählte er in mehreren Interviews, zuletzt vor wenigen Tagen im Podcast von Lex Fridman. Als STANDARD-Redakteur mit boxendem Kind in der Nacht und wenig nachsichtigem Forum tagsüber ist man mit Sicherheit einem etwas geringeren Druck ausgesetzt als der Tesla-Chef, aber Entspannung sucht und braucht man dennoch regelmäßig. Deshalb darf man sich schon die Frage stellen, ob Gaming – für viele das beste Hobby der Welt – wirklich als Entspannungsübung und zum Runterkommen dienen kann.

Stresshormon wird reduziert

"Kannst du bitte etwas weniger rumbrüllen," ermahnt mich meine Frau, die mein Fluchen trotz zweier uns zuvor trennenden Türen unangenehm laut gehört hat. Grund war nicht etwa der Blick auf die neue Stromrechnung, sondern der anhaltende Versuch eines 45-jährigen Mannes, in kompetitiven Shootern auf der Playstation Erfolge feiern zu wollen. Wenn man dann fast im Minutentakt von N00bKilla_2011 aus dem Spiel genommen wird, dann entlädt sich die damit verbundene Enttäuschung gelegentlich im lauten Ausatmen von negativer Luft – was andere auch als Gebrüll wahrnehmen können.

Mit diesen Emotionen bin ich nicht alleine. Auch im eigenen Umfeld, auf Twitch oder Youtube regen sich Menschen gerne beim Spielen auf, zertrümmern gelegentlich Controller oder hüpfen einfach wild durchs Zimmer, wenn ein wichtiger Sprung nicht gelingt oder sich ein Bossgegner härter als erwartet in den Weg stellt. Aber so einseitig kann das Phänomen nicht betrachtet werden. Abseits von diesen sehr starken Gefühlen in Richtung Zorn und Zerstörung können Games auch das genaue Gegenteil auslösen. Der Games-Psychologe Benjamin Strobel nennt für den STANDARD eine aktuelle Studie des Game-Verbandes der deutschen Games-Branche. "Rund zwei Drittel der Befragten spielen Games zur Entspannung." Ob es ihnen dadurch tatsächlich besser gehe, könne man anhand der Befragung zwar nicht beurteilen, aber das mentale, soziale und emotionale Wohlbefinden kann durch den Griff zum Joypad oder der Tastatur tatsächlich positiv beeinflusst werden.

Ob Videospiele uns tatsächlich entspannen können, hängt laut Strobel unter anderem von der Art des Spiels ab. Wenn man beispielsweise ein Horror- oder Action-Game spiele, dann sorge das eher für Anspannung. "Das ist ja auch der gewünschte Effekt dieser Spiele. Hier wollen wir etwas erleben!" Anders sei es zum Beispiel mit Puzzle-Spielen. Das Knobeln und Nachdenken bei solchen Games kann Stress tatsächlich reduzieren. Eine medizinische Studie konnte beispielsweise zeigen, dass bei Personen weniger vom Stresshormon Cortisol ausgeschüttet wurde, wenn sie Puzzle-Games spielten. Spielten sie hingegen ein actionreiches Videospiel, einen Shooter etwa, stieg der Cortisolspiegel an.

Elon Musk on Diablo 4 and video games | Lex Fridman Podcast Clips
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Musk und Flow-Effekt

Nun stellt sich natürlich die Frage, ob es tatsächlich ein Mittel für gestresste Business-Leute sein kann, am Abend eine Runde "Diablo" oder auch "Tetris" zu spielen, wenn der Tag von Hektik, langen Meetings und vielen Entscheidungen durchdrungen war. Der Psychologe meint, dass unabhängig davon, ob Games direkt den Stress reduzieren würden, sie einen Ausgleich zu unserem Alltag schaffen können. Bereiche wie Arbeit und Beruf würden auch darunter leiden, dass sie häufig mit großen Anforderungen und Zwängen verbunden sind – unter anderem der Tatsache, dass man sie auch ausüben muss, wenn man einmal keine Lust dazu hat. Videospiele seien hingegen von Freiwilligkeit gekennzeichnet und könnten uns auf diese Weise ganz andere Erfahrungen bieten als der Alltag. "Vor allem dürfen wir hier ohne große Konsequenzen einfach mal scheitern – und können es gleich neu probieren." Das sei laut Strobel ein Luxus, den wir uns in anderen Lebensbereichen mit Sicherheit oftmals wünschen, aber sicher nicht haben.

Was Spiele im Idealfall noch liefern, auch das erwähnt Musk gern in Interviews, ist der sogenannte Flow. Als Spieler findet man sich hier in einem Zustand, bei dem die Hand- und Augenkoordination ineinandergreift, man sich als Herr der Lage fühlt und tief ins Spiel versinken kann. Der Fachmann nennt Flow einen Erlebniszustand, bei dem Personen in einer "Aktivität vollständig aufgehen". Der Zustand kann bei verschiedenen Tätigkeiten auftreten, etwa beim Musizieren oder Programmieren. Oder eben beim Spielen. Am besten lässt sich der Zustand herstellen, wenn ein Gleichgewicht zwischen den Fähigkeiten einer Person und den Anforderungen der Aufgabe besteht – also bei einer "mittleren Schwierigkeit, die uns weder über- noch unterfordert." Einziger Nachteil: Der Flow-Zustand hält oft nur kurze Zeit an, etwa wenige Minuten. Zumindest kann er aber immer wieder auftreten. Dabei verändert sich auch das Zeitgefühl. "Wir bemerken den Flow dann erst im Nachhinein, wenn wir das Gefühl haben, dass viel mehr Zeit vergangen ist, als wir angenommen haben." Das heißt aber nicht, dass die Tätigkeit immer entspannend sein muss, sie kann sogar erschöpfend sein. Auch das bemerkt man dann oft erst hinterher.

Konsumierbares Wohlbefinden

Ich spreche Strobel auf meine Kindheit an. Nicht um etwas aufzuarbeiten, sondern um auf meine zahlreichen Erinnerungen mit Amiga, Atari ST oder Super Nintendo hinzuweisen. Videospiele sind für mich wie nach Hause zu kommen, sich ein wenig in die Kindheit zurückversetzt zu fühlen – ein wenig Geborgenheit, wenn die Welt rundherum einzustürzen droht. Trotzdem habe ich auch die eingangs erwähnten Aussetzer, in denen ich mich vergesse oder brülle – zum Leidwesen meiner Familie und der direkten Nachbarn.

"Würden wir Ihren Cortisolspiegel messen, könnten wir darin vermutlich erkennen, dass er nach dem Spielen von Shootern erhöht ist und nicht gesunken – und dass sie nicht zur Entspannung beigetragen haben", sagt Strobel. Gleichzeitig böte das Spielen – unter Freiwilligkeit und in einer selbst gewählten Umgebung – auch einen Ausgleich zu anderen Lebensbereichen wie Beruf und Familie. Spiele können laut dem Psychologen zum Beispiel unser Erleben von Autonomie und Selbstwirksamkeit fördern. Auch Nostalgie, ausgelöst durch Kindheitserinnerungen, kann der Spielerin oder dem Spieler ein gutes Gefühl geben und das Wohlbefinden steigern. Wenn man den Stresslevel senken möchte, wäre wohl der Konsum eines ruhigen Denkspiels zu empfehlen, anstatt sich in "Rainbow Six Siege" von anderen Spielern abziehen zu lassen. Das lege jedenfalls die Forschung nahe, betont der Experte.

Tatsächlich habe ich kürzlich "Howl" vom österreichischen Spielestudio Mipumi getestet und genau diesen erholsamen Effekt deutlich gespürt. Kein Zeitdruck, kein anderer Spieler mit schnelleren Reaktionen und keine übermäßigen Strafen für das spielerische Scheitern. Man sitzt vor dem PC, als würde man eine Partie Schach spielen. Aber nicht nur "Howl" ist ein solches Anti-Stress-Spiel. Schon seit Jahren, eigentlich seit den Pandemie-Lockdowns, wird der Markt von sogenannten Cozy Games zunehmend in Angriff genommen. Aufbausimulationen ("Animal Crossing"), bei denen man seinen kleinen Garten bewirtschaftet, oder Games von kleinen Studios, bei denen man lediglich sein mitgebrachtes Zeug in Schränke räumt ("Unpacking") oder Steine richtig auf eine Spielfläche legen muss, um Punkte zu erhalten ("Dorfromantik"). In der eingangs erwähnten Studie aus Deutschland gaben 47 Prozent der Befragten an, dass Videospiele ihnen durch schwierige Zeiten geholfen hätten. Speziell in Situationen, wo man ansonsten isoliert wäre, war der Griff zum Joypad für viele die Möglichkeit, mit der Außenwelt zu kommunizieren und zu interagieren.

Gaming hilft Stress abzubauen, Statistik 2023
Der deutsche Game-Verband hat im Oktober 2023 eine Studie veröffentlicht, die die positive Wirkung von Videospielen betont.
game – Verband der deutschen Games-Branche

Keine Shooter mehr

Für meinen persönlichen Stresslevel habe ich beschlossen, die meisten kompetitiven Spiele sein zu lassen. Mit Arbeit und Kind einmal im Monat zu versuchen, das Internet zu besiegen, ist zum Scheitern verurteilt. Wenn man damit nicht klarkommt, dann sollte man es einfach lassen. Empfehlen kann ich stattdessen rundenbasierte Spiele, wo zumindest kein Zeitlimit auf einen Druck ausübt. Am Ende des Tages ist es aber wohl sehr individuell, was die Zeit vor dem PC am meisten versüßt. Der Sieg über einen zunächst unbesiegbar scheinenden Gegner hat den Spielen von From Software ("Dark Souls", "Sekiro", "Elden Ring") in Gamer-Kreisen Kultstatus verliehen. Wohl auch deshalb, weil der Körper nach einem geschlagenen Boss, den man zuvor 93 Mal probieren musste, gar nicht weiß, wo er mit den ganzen Glücksgefühlen hin soll.

Ein Glücksgefühl, das sich Jugendliche oft bei "Fortnite" holen und so manch überarbeiteter CEO bei einer Runde "Diablo". Am Ende will man wohl im Idealfall vor allem den Stress im Alltag vergessen, egal ob schlechte Noten in der Schule, fehlgeschlagener Raketenstart oder unwillige Anzeigenkunden. (Alexander Amon, 2.12.2023)