Illustration eines Kindes mit Teddybär daneben, über dem Kind eine Wolke
Das Trauma der Geiselnahme sitzt bei Kindern besonders tief.
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Im Grunde funktioniert unsere Psyche immer nach demselben Prinzip: Wir möchten Dinge rational verstehen und einordnen. Das hilft uns dabei, das Geschehene zu verarbeiten. Aber was seit 7. Oktober in Nahost passiert, entzieht sich jeglicher Rationalität. "Es ist derartig überwältigend, dass wir das nicht einordnen und begreifen können", sagt die Psychotherapeutin Paulina Burger. Was bleibt, ist ein Gefühl der Ohnmacht und der Hilflosigkeit. Wie kann so eine Gräueltat passieren? Wie können Menschen zu so etwas fähig sein? Und vor allem: Wie muss es den Geiseln gehen?

Unsere Seele kennt bei derart überwältigenden Ereignissen im Grunde drei Mechanismen, sagt Burger: "Wir versuchen zu flüchten, zu kämpfen, oder wir stellen uns tot." Flüchten und kämpfen ist für die Geiseln keine Option, das heißt, Betroffene stellen sich tot. "Man kann sich das so vorstellen, als würden die Opfer ihre Seele für die Zeit der Geiselnahme in Narkose versetzen. Man schaltet sich selbst aus, um das Ganze irgendwie überleben zu können", weiß die Traumaexpertin.

Das Trauma sitzt im Unbewussten

Vor allem die Kleinkinder unter den Geiseln könnten das, was mit ihnen passiert, noch weniger begreifen als Erwachsene. "Je jünger, desto schlimmer sind diese Erlebnisse", sagt Burger. Man sagt zwar, dass man sich erst ab einem Alter von drei Jahren an Dinge erinnern kann, weil ab dann der Hippocampus, eine der Hauptstrukturen in unserem Gehirn, fertig ausgebildet ist. "Aber der Körper erinnert sich trotzdem", stellt Burger klar. Das Trauma ist tief im Nervensystem der Opfer gespeichert und kann dort über Jahre bleiben.

Das Phänomen ist gut erforscht. In Studien hat sich gezeigt, dass Menschen, die im Kleinkindalter Missbrauchs- oder andere Gewalterfahrungen gemacht haben, zwar keine Erinnerungen an die Erlebnisse haben, aber auf bestimmte Auslöser reagieren – etwa Gerüche, Geräusche oder Berührungen. "Gewaltopfer riechen beispielsweise ein bestimmtes Rasierwasser und sind sofort getriggert, zucken zusammen und erstarren. Ein anderes Beispiel sind Veteranen, die sich zu Silvester, wenn die Raketen knallen, unter den Tisch werfen", berichtet Burger.

Kinder, die jetzt von der Hamas als Geiseln gehalten wurden oder werden, haben später vielleicht keine bildlichen Erinnerungen daran. Aber sie werden den Schrecken gespeichert haben und könnten sehr wohl mit verändertem Verhalten reagieren. Unmittelbar etwa mit Einnässen oder Daumenlutschen, Jahre später mit psychischen Problemen.

Können Betroffene über so etwas Traumatisches jemals hinwegkommen? Ja, betont Burger, unter gesunden Umständen könne man das gut verarbeiten. Dabei sind drei Faktoren entscheidend: Zum einen geht es darum, wie die Situation in der Geiselhaft war – ob sie allein oder in Gruppen waren, ob ihnen mit Mord gedroht wurde, ob sie körperliche oder sexualisierte Gewalt erfahren haben. "Das Trauma ist immer groß, aber für die spätere Verarbeitung spielen diese Faktoren eine wichtige Rolle", erklärt Burger. Zum anderen ist die Frage relevant, ob die Person bereits Traumata erlebt hat, Verluste oder Krankheiten überwinden musste. Und letztlich sind psychische Faktoren zentral: Wie ist das Umfeld des Opfers? Gibt es enge Beziehungen? Wie ist die generelle Lebenszufriedenheit?

Vollständig heilen

Das Wichtigste sei für die freigelassenen Geiseln dabei erst einmal ein sicheres Umfeld, in dem sie zur Ruhe kommen können. "Man muss sie schützen, sie mit Vertrauenspersonen umgeben und, so banal das auch klingt, sie mit schönen Dingen ablenken." Und ganz wichtig sei, dass man sie über das Trauma, die damit einhergehenden Symptome und Reaktionen des Körpers aufklärt – "damit sie verstehen, dass nicht sie selbst die Verrückten sind, sondern das, was sie erleben mussten, das Außergewöhnliche ist." So sollen Betroffene die Selbstwirksamkeit – die Überzeugung, schwierige Situationen selbst meistern zu können, was in der Geiselhaft nicht möglich war – zurückerlangen. Bei Kindern hingegen sind die drei Zs entscheidend, betont Burger: "Zärtlichkeit, Zeit und viel Zuwendung. Das brauchen sie, um das Erlebte verarbeiten zu können."

Aber manche Traumata sind zu komplex, um mit Zuneigung und Gesprächen überwunden zu werden. Burger erklärt das so: "Ein massives Trauma ist wie ein Spiegel, der in viele Fragmente zerspringt und den man nicht mehr zusammensetzen kann. Manche Teile fehlen vielleicht, man kann sich nicht an alles erinnern. Von manchen Situationen hat man Bilder abgespeichert, aber das Gefühl aus diesem Moment ist nicht mehr aufrufbar. Ein anderes Mal hat man Gefühle, aber keine Geräuschkulisse mehr."

In der Traumatherapie gibt es dann verschiedene Ansätze. Einer davon ist die EMDR-Methode (Eye Movement Desensitization and Reprocessing). Vereinfacht gesagt werden dabei abwechselnd beide Gehirnhälften angeregt, etwa durch gelenkte Augenbewegungen von einer Seite zur anderen. Das imitiert die Traumphase des Schlafes. "Das Gehirn wird dadurch quasi in die Vergangenheit geschickt, um das Erlebte neu einzuordnen und ganzheitlicher zu verarbeiten", erklärt Burger.

In irgendeiner Form sollten sich Betroffene jedenfalls mit dem Trauma befassen. Das ist langfristig gesünder als verdrängen, sagt sie: "Verdrängen funktioniert zwar auch lange, aber irgendwann kommt alles wieder hoch." (Magdalena Pötsch, 3.12.2023)