Henry Kissinger (Archivfoto von 2016)
Henry Kissinger (Archivfoto von 2016) galt jahrzehntelang als eine der zentralen Figuren der US-Außenpolitik – offiziell, aber auch informell.
AFP/BRENDAN SMIALOWSKI

Henry Kissinger, der in den 1970er-Jahren – zuerst als Nationaler Sicherheitsberater und später als Außenminister der USA – einer der zentralen Protagonisten der US-Außenpolitik war und bis zuletzt als Berater, Autor und Analyst hoch angesehen war, ist am Mittwoch (US-Ortszeit) im Alter von 100 Jahren in seinem Haus im US-Bundesstaat Connecticut gestorben. Der 1923 im süddeutschen Fürth geborene Kissinger hatte unter den US-Präsidenten Richard Nixon und Gerald Ford enormen Einfluss auf die internationale Politik, war aber – trotz der Zuerkennung des Friedensnobelpreises 1973 – auch immer wieder umstritten.

Video: Ex-US-Außenminister Henry Kissinger im Alter von 100 Jahren gestorben.
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Umtriebiger Weltstratege

Die Reise ins Unbekannte begann mit einer Magenverstimmung. Es war der 8. Juli 1971, und Henry Kissinger schickte sich an, Geschichte zu schreiben – nur durfte zunächst kein Außenstehender davon erfahren. Der Sicherheitsberater des US-Präsidenten Richard Nixon wollte nach Peking fliegen – in eine Stadt, die für amerikanische Regierungspolitiker tabu war, seit die Kommunisten die Macht in China übernommen hatten. Um es zu verschleiern, bediente er sich einer Finte.

Auf Zwischenstation in Pakistan, einem Land, das vermittelnd mitwirkte, klagte er während eines Dinners über das, was man in Südasien den "Delhi belly" nennt. Der gastgebende Staatschef riet ihm daraufhin, ein Anwesen in den Hügeln bei Rawalpindi aufzusuchen, wo er sich in frischer Luft erholen könne und das mit den Bauchschmerzen sicher bald nachlassen würde.

Tatsächlich ließ sich Kissinger um drei Uhr in der Nacht vom Außenminister Pakistans in einem unauffälligen Kleinwagen zum nächsten Flughafen kutschieren, wo bereits eine Maschine wartete, um ihn nach Peking zu bringen. Mit Sonnenbrille und Schlapphut, beides der Tarnung wegen, stieg er die Gangway hinauf.

"Eureka"

Als er an Bord von chinesischen Offiziellen begrüßt wurde, unter ihnen Mao Zedongs Englischdolmetscherin, waren seine Leibwächter dermaßen überrascht, dass sie im ersten Schreck an eine Entführung dachten. Einer der Bodyguards soll sogar seine Waffe gezogen haben. "Eureka", telegrafierte Kissinger Tage später, auf dem Rückweg von China, ins Weiße Haus – das Codewort dafür, dass die Mission, der gut ein halbes Jahr später ein Besuch Nixons im Reich der Mitte folgen sollte, geglückt war.

Es liegt wohl an Kapiteln wie diesem, dass Kissinger in die Annalen einging als einer der umtriebigsten Weltstrategen, die die USA jemals hatten. 1969 übertrug ihm der Republikaner Nixon nach gewonnener Wahl die Leitung des Nationalen Sicherheitsrates, 1973 machte er ihn obendrein zum Außenminister. Den Posten im State Department behielt der ehemalige Harvard-Professor, als Gerald Ford den über den Watergate-Skandal gestürzten Nixon im Oval Office ablöste, bis Ford dann selber das Wahlduell gegen Jimmy Carter verlor.

Henry Kissinger 1975 bei einer Nato-Tagung, gemeinsam mit dem damaligen US-Präsidenten Gerald Ford (rechts).
Henry Kissinger 1975 bei einer Nato-Tagung, gemeinsam mit dem damaligen US-Präsidenten Gerald Ford (rechts).
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Acht Jahre lang hat Kissinger die Außenpolitik der USA wesentlich mitbestimmt. In den außenpolitischen Debatten war er viel länger, im Grunde bis zu seinem Tode, präsent mit Wortmeldungen, die bisweilen klangen, als könne sich ein alter, weiser Mann nur wundern über die Naivität der heutigen Hauptakteure.

Kissinger stand, markanter als die meisten in Washington, für einen trockenen, kühlen, bisweilen skrupellos kühlen Realismus, auch wenn er es im Kontrast dazu verstand, sich schillernd in Szene zu setzen – nicht zuletzt als "ladies' man". In einem Buch mit dem Titel "World Order", 2014 erschienen, beschrieb er, was nicht nur er als die ewige Widersprüchlichkeit amerikanischer Politik charakterisierte.

"Ambivalente Supermacht"

Er sprach von der "ambivalenten Supermacht", die hin- und hergerissen sei zwischen feurigem Sendungsbewusstsein und nüchternem Abwägen. Fast jeder US-Präsident, schrieb Kissinger, beharre auf dem Grundsatz, nach dem seine Republik universelle Freiheitsprinzipien hochhalte, während alle anderen lediglich nationalen Interessen folgten. Diese Werte durch die Kraft des eigenen Beispiels oder zivile Hilfe zu verbreiten, wie im Falle des Marshallplans für das kriegszerstörte Europa, sei ein wichtiger Teil amerikanischer Tradition. Sie aber durch militärische Besatzung durchzusetzen – zumal in Regionen, in denen sie keine historischen Wurzeln hätten – und in kürzester Zeit einen grundlegenden Wandel zu erwarten, schrieb er mit Blick auf das Fiasko im Irak, "das war mehr, als die amerikanische Öffentlichkeit unterstützen und die irakische Gesellschaft verkraften konnte". Nebenbei bemerkt: Die Widersprüchlichkeit des Henry Kissinger lag darin, dass er selbst den Einmarsch im Jahr 2003 unterstützte, nur um später zu erklären, hätte er gewusst, was er heute wisse, wäre er dagegen gewesen.

Im Zenit seiner Macht jedenfalls stand er für eine Phase, in der die USA die Grenzen ihrer Macht anerkannten, während das Sendungsbewusste zurücktreten musste. Der zunehmend als sinnlos empfundene Krieg in Vietnam schürte die Selbstzweifel; es war die Stunde der Bescheidenheit, der Realpolitik. Nixon, zuvor eher als Scharfmacher bekannt, bemühte sich im Tandem mit Kissinger um Entspannung im Verhältnis zur Sowjetunion. Zugleich strebten beide eine Normalisierung mit China an – auch um Moskau und Peking gegeneinander auszuspielen.

Henry Kissinger beriet jahrelang auch US-Präsident Richard Nixon (rechts, Archivfoto 1972).
Henry Kissinger beriet jahrelang auch den US-Präsidenten Richard Nixon (rechts, Archivfoto 1972).
via REUTERS/NIXON LIBRARY

Friedensnobelpreis

1973 beendete ein Friedensabkommen formell den Militäreinsatz in Vietnam – wofür Kissinger gemeinsam mit dem vietnamesischen Verhandler Lê Đức Thọ, der die Auszeichnung allerdings ablehnte, den Friedensnobelpreis bekam. Doch das amerikanische Tandem im Weißen Haus musste sich vorwerfen lassen, das Blutvergießen durch fragwürdige Entscheidungen unnötig verlängert zu haben. 1970 etwa verteidigte Kissinger Angriffe auf Kambodscha – mithin eine Ausweitung des Krieges – mit dem bizarren Argument, auf diese Weise sende man "den Sowjets" die Botschaft, dass man entschlossen sei, dem Krieg ein Ende zu setzen.

Als am 11. September 1973 General Augusto Pinochet in Chile gegen die demokratisch gewählte Regierung Salvador Allendes putschte und eine der brutalsten Militärdiktaturen in der Geschichte Lateinamerikas begründete, war Kissinger in der Rolle des Skrupellosen zu erleben. Wie unschön auch immer sein möge, was Pinochet tue, meinte Kissinger: "Diese Regierung ist besser für uns, als es die von Allende war." Entscheidend sei, den sowjetischen Einfluss zurückzudrängen.

Blockdenken des Kalten Krieges

Das Blockdenken des Kalten Krieges, ein Denken in Einflusssphären: In Kissingers Augen stand es für ein halbwegs funktionierendes Ordnungssystem, das dem Chaos allemal vorzuziehen sei. Es gibt Biografen, die seine Weltsicht ganz entscheidend auf die Erfahrungen in seiner Kindheit und Jugend zurückführen. Am 27. Mai 1923 wird Heinz Alfred Kissinger im fränkischen Fürth geboren, 1938 flieht die Familie vor der Judenverfolgung, um in New York ein neues Leben zu beginnen.

Einem seiner Biografen, Thomas A. Schwartz, hat Kissinger anvertraut, was er damals empfand: Ein scheinbar stabiles Lebensumfeld wurde von den Nazis in kürzester Zeit aus den Angeln gehoben. Menschen, deren Leben einst sicher verankert zu sein schien, wurden auf einmal in Turbulenzen geschleudert, in denen es keinerlei Sicherheit mehr gab. Die Erfahrung einer gewaltsam unterbrochenen Jugend, schreibt Schwartz, dürfte dazu beigetragen haben, dass Kissinger so viel Wert auf Stabilität und Balance in den internationalen Beziehungen legte. Dass er "internationale Unordnung" mehr fürchtete als alles andere.

Henry Kissinger starb am 29. November 2023 (US-Ortszeit) im Alter von 100 Jahren. Zuletzt war er mit Statements zu China und zum Gaza-Krieg – er sicherte Israel die unumschränkte Unterstützung der USA im Kampf gegen die Hamas zu – in den Medien in Erscheinung getreten. (Frank Herrmann, 30.11.2023)