Schneefliege (Chionea belgica) auf Schnee
Schneefliegen (oder Schneemücken) verfügen über eine gefinkelte Strategie, den Winter zu überstehen.
imago/blickwinkel/H. Bellmann/F. Hecker

Die Tiere in unseren Breiten haben unterschiedliche Strategien entwickelt, um die kalte Jahreszeit zu überleben. Einige Arten tauchen mittels Winterschlaf durch. Andere, die fliegen können, sind längst in den Süden geflüchtet. Wieder andere Spezies haben besondere Energiesparmaßnahmen entwickelt – wie etwa Wiesel, Spitzmäuse oder Maulwürfe, die ihre Schädel samt Inhalt bei Kälte schrumpfen.

Es gibt auch einige wenige Insekten, die im Winter draußen überleben. Dazu gehören die Schneefliegen (Chionea): flügellose Insekten, die in etwa wie Weberknechte (nur mit sechs statt acht Beinen) aussehen und auch in unseren Breiten in Bergregionen bei Minusgraden über den Schnee krabbeln. Aufs Fressen verzichten Schneefliegen während ihrer kurzen Lebenszeit; stattdessen nehmen sie Wasser in Form von Schnee zu sich.

Von den Bergen ins Labor

Aufgrund ihres abgeschiedenen Lebens in exponierten Schneeregionen der nördlichen Hemisphäre sind die Schneefliegen kaum erforscht – was nun ein Team der Universität von Washington in Seattle für die nordamerikanischen Schneefliegen änderte. Die Forschenden aus dem Team des Neurobiologen John Tuthill stellten mittels Crowdfunding etwas Geld auf, um zunächst mit freiwilligen Skitourengehern 256 erwachsene Schneefliegen zu bergen. Danach wurden die Insekten, die hauptsächlich aus den alpinen Regionen Washingtons sowie aus Colorado, Vermont, British Columbia und Yukon stammten, im Labor weiteruntersucht.

Bei den Tests im Labor zeigte sich, dass sich Schneefliegen bei einer Körpertemperatur von bis zu minus 10 Grad Celsius bewegen können, wie Tuthill und sein Team kürzlich im Fachblatt "Current Biology" berichteten. Ihre Hauptergebnisse haben sie auch bildlich publiziert:

Schneefliege Frost
Die erstaunlichen Eigenschaften der Schneefliege in einem Cartoon zusammengefasst.
Current Biology

An dieser Unterkühlungsgrenze von minus 10 Grad Celsius (bei den europäischen Verwandten dürfte sie noch etwas tiefer liegen) kommt es in der Hämolymphe, also der Körperflüssigkeit der Schneefliege, zur Eiskristallisation, die sich rasch im ganzen Körper ausbreitet und zum Tod führt. Kommen Schneefliegen in diesen Grenzbereich, dann greifen sie zu einer brachialen Maßnahme: Sie können sie sich selbst das eine oder andere Bein amputieren, um zu verhindern, dass die Vereisung auf den Körper übergreift.

Snow flies amputate their legs to survive in cold.
Die Amputation von Extremitäten im Fall akuter Erfrierungen kommt nicht nur bei Bergsteigern vor; die Schneefliegen machen es sogar selbst.
Cell Press

Diese Selbstamputation der Beine verlängert mithin das Überleben der Schneefliegen. Das konnten die Forschenden nicht nur im Laborexperiment zeigen. Auch in freier Wildbahn fanden die Forschenden immer wieder Schneefliegen, die auf vier oder drei Beinen behände über den Schnee krabbelten.

Diese Form der Selbstamputation könnten sie von Verwandten geerbt beziehungsweise adaptiert haben: Um vor Feinden zu flüchten, greifen auch andere Insektenarten, die mit den Schneefliegen weitläufig verwandt sind, zu dieser Maßnahme.

Langfristig droht den Schneefliegen allerdings eine andere Gefahr. Das Team um Tuthil weis auf die ungünstigen Zukunftsaussichten dieser sehr speziellen Insekten aufgrund des Klimawandels hin: Es könnte für Schneebedeckungen in Teilen ihres bisherigen Lebensraums schlicht zu warm werden. (Klaus Taschwer, 2.12.2023)