„In den ersten 20 Jahren war ich für die Kritiker nur das hübsche Mädchen.“ Längst hat Iris Berben mit Filmen wie zuletzt in „Triangle of Sadness“ und der Serie „Deutsches Haus“ in die A-Liga des Schauspiels erobert.
"In den ersten 20 Jahren war ich für die Kritiker nur das hübsche Mädchen." Längst hat Iris Berben mit Filmen wie zuletzt "Triangle of Sadness" und der Serie "Deutsches Haus" die A-Liga des Schauspiels erobert.
Jonas Holthaus/laif

Iris Berben hat einen Lauf. Soeben startete ihr neuer Film 791 KM in den Kinos an, auf Disney+ berührt sie als Auschwitz-Überlebende in der Serie Deutsches Haus. In der Netflix-Produktion Paradise gab sie 2022 eine bösartige Biotech-Bonzin, in Der Nachname, der besten deutschsprachigen Komödie desselben Jahres, war sie ebenfalls dabei. Mit dem Satz "In den Wolken!" trug sie wesentlich zu Ruben Östlunds Meisterwerk Triangle of Sadness bei. Falls es so etwas wie Altersdiskriminierung unter Schauspielerinnen gibt – und selbst Iris Berben leugnet das nicht –, auf die 73-Jährige trifft das nicht zu. DER STANDARD traf Iris Berben in Berlin zum Interview.

STANDARD: Mögen Sie Interviews?

Berben: Sagen wir so: Sie haben sich verändert. Anscheinend ist die Medienwelt hungriger, gieriger geworden. Sie will immer noch mehr. Filme zu drehen liebe ich, die Vorarbeit, das Drehen, die Konzentration, die du brauchst. Aber Filme zu drehen ist mittlerweile der kleinste Akt geworden. Alles, was sich drumherum abspielt, ist groß, zu groß, und daraus entsteht eine Form von Beliebigkeit. Ich bin mittlerweile knallhart in meinen Entscheidungen, wem ich Interviews gebe. Ein Gespräch, von dem ich weiß, es geht in die falsche Richtung, lehne ich ab. Insofern kann ich die Frage gar nicht mit Ja oder Nein beantworten. Ich mag es, mich in einem guten Gespräch auf einen wildfremden Menschen einzulassen. Ein Interview ist doch ein intimer Vorgang. Ich erzähle von mir, von meiner Arbeit, meinen Rollen und von meiner Gefühlswelt.

STANDARD: Im STANDARD gibt es eine Rubrik mit dem Namen "Geradegerückt" über Frauen, die von Medien und Öffentlichkeit verzerrt dargestellt wurden. Gibt es in Ihrer beruflichen Laufbahn ein Ereignis, das Sie gerne geraderücken würden?

Berben: Es fällt mir schwer, darauf zu antworten, weil ich immer versucht habe, mich für Filme zu entscheiden, die ich mit meinem jeweiligen Wissen und der jeweiligen Notwendigkeit – sprich: alleinerziehend Geld zu verdienen – für richtig angesehen habe. Also grundsätzlich habe ich nicht dieses Gefühl von Scham, von dem ich sagen muss: Da ist mir was passiert, das hätte mir nicht passieren dürfen.

STANDARD: Hat Ihnen immer gefallen, was Medien mit Ihrer Präsenz gemacht haben?

Berben: Das Bild war sicherlich über viele Jahre eines, in dem ich mich sehr ungern wiedergefunden habe, weil es oft ein sehr äußerliches Bild war. Das heißt, man hat mich viel über Äußerlichkeiten beurteilt und nicht über meine Fähigkeiten. Auf der anderen Seite war genau diese einseitige Beurteilung eine Art von Motor für mich, weil ich dagegen immer ankämpfte. Ich wollte diese äußerliche Sicht mit Inhalten füllen. Und insofern ist dieses Bild in der Öffentlichkeit am ehesten etwas zum Geraderücken. Jemand fragte mich vor kurzem bei einem Interview: Sie haben sich ja vor 40 Jahren mal für den Playboy ausgezogen? Ja. War das ein Akt von Feminismus? Ich sagte: Nein, das war ein Akt von Provokation und Dusseligkeit. Worüber ich aber wirklich staune: Das ist so viele Jahrzehnte her, habe ich nicht genug an Biografie geliefert? Aber das scheinen Bilder zu sein, die sich manifestiert haben. Natürlich bin ich immer noch für einige einfach nur eine attraktive Frau. Aber heute muss ich nichts mehr zurechtrücken.

STANDARD: Am Anfang Ihrer Karriere waren Sie als Schauspielerin ganz, ganz, ganz woanders. Das war beim Autorenfilm mit Rudolf Thome und Klaus Lemke, und dann ging es recht schnell zum damals in Künstlerkreisen nicht sehr geschätzten Fernsehen. Was ist da passiert? Waren Sie jung und brauchten das Geld?

Berben: Gar nicht. Ich habe das gar nicht so strategisch gesehen. Ich sehe meinen Beruf auch heute nicht strategisch. Ich mache Filme, von denen ich denke, das interessiert mich. So kamen damals das Fernsehen und der erste Film, 1971, Der Fall Eleni Voulgari über eine politische Gefangene zustande, und dann kam plötzlich anderes wie Zwei himmlische Töchter.

STANDARD: Ein Ableger vom berüchtigten Klimbim, mit Ingrid Steeger.

Berben: Ein völlig neues Format aus Amerika von Michael Pfleghar. In der Zwischenzeit bin ich mit dem Grimme-Preis dafür ausgezeichnet, weil ich immer an neuen Formaten beteiligt war. Auf der intellektuellen Ebene musste ich das immer entschuldigen. Für die Autorenfilmer war mein Weg zum Fernsehen ein Verrat, damit war ich verbrannt für den Film. In den Siebzigerjahren war das so. Heute ist es genau umgekehrt, da nimmt man eher fürs Kino Schauspielerinnen und Schauspieler, die sich im Fernsehen einen Namen gemacht haben. Damals war es Schmerz. Ich konnte nicht verstehen, wie man so endgültig aus dem Spiel raus ist.

STANDARD: Man hat tatsächlich zu Ihnen gesagt: Du hast jetzt Fernsehen gemacht, deswegen kommst du nicht mehr infrage für den Film?

Berben: Ja, und deshalb bekam ich lange Zeit keine Angebote für Kinofilme. Erst Jahre später hat sich das wieder gedreht.

STANDARD: Einmal verstoßen, gab es kein Zurück. Aber wie leicht war es davor, in Filme von Rudolf Thome und Klaus Lemke reinzukommen?

Berben: Das gelang mir durch Uwe Nettelbeck. Er war in den 1960er-Jahren eine Koryphäe als Filmkritiker, sein Wort hatte Gewicht. Seine Frau war finanziell an einem Kinofilm von Rudolf Thome beteiligt. Der Film hieß Detektive, und sie suchten eine weitere Hauptdarstellerin. Uwe Nettelbeck hatte mich 1968 in zwei experimentellen Filmen gesehen, in Oberhausen, wo das Oberhausener Manifest unterschrieben wurde.

STANDARD: Eine Erklärung über die Erneuerung der westdeutschen Filmproduktion, unterzeichnet von Filmschaffenden wie Alexander Kluge, Edgar Reitz und Peter Schamoni.

Berben: Eine sehr politische Zeit. Ich war von der Schule geflogen und hatte zwei Kurzfilme gedreht, mit zwei Studenten, die am Lerchenfeld an der Kunsthochschule in Hamburg Film studierten. Wir wollten sein wie Andy Warhol. In meinem ersten Film wurde ich also – anders als bei Andy Warhol, der sieben Stunden seinen schlafenden Liebhaber gefilmt hat – zwanzig Minuten beim Schlafen gefilmt.

STANDARD: Und sind so Nettelbeck aufgefallen.

Berben: Danach kamen Lemke, Corbucci, und ich war plötzlich bei etwas dabei, von dem ich sagte: Okay, mache ich noch, mache ich, mache ich. Eigentlich wollte ich das Abitur schaffen und Jura studieren.

STANDARD: Warum sind Sie von der Schule geflogen?

Berben: Ich bin aus drei Internaten und aus einigen Schulen geflogen. Heute würde man sagen, ich war hyperaktiv. Damals galt ich als aufsässig. Ich war wohl ein bisschen anstrengend. Bin ich ja heute noch.

STANDARD: Sie haben einmal gesagt: "In den ersten 20 Jahren war ich für die Kritiker nur das hübsche Mädchen." Das hat Sie offenbar gestört.

Berben: Ja, ich wurde nur wahrgenommen, weil ich attraktiv war. Die Wahrnehmung reduzierte sich auf das Äußere.

STANDARD: Das kann man als historisch gewachsen bewerten. Lange Zeit war das Frauenbild im Film hauptsächlich auf Heilige oder Hure beschränkt.

Berben: Und trotzdem fallen mir auf die Schnelle Gegenbeispiele ein. Wenn ich an Mamma Roma denke, an den Neorealismus in italienischen Filmen, an große Frauenfiguren oder Brigitte Bardot. Man hat mit Frauenklischees gespielt. Ich wehre mich gegen die Behauptung, es ging beim Film nur um die Ausbeutung der Frau. Ich sehe das anders. Wenn man an Jane Fonda und Barbarella denkt, da ging es um ein filmisches Mittel – eine Frau wie eine Comicfigur darzustellen. Speziell die italienischen Filme der Zeit haben ja auch erzählt, aus welchem Umfeld jemand kam, warum sie zur Hure wurde. Natürlich gibt es genug Filme, in denen Frauenfiguren als Klischee benutzt wurden. Ich finde aber nicht, dass man die Filme der 60er und 70er darauf reduzieren kann.

STANDARD: In den 1970er-Jahren wurde in Deutschland aber schon auch in der Lederhose fest gejodelt.

Berben: Ja, diese Softporno-Filme, Schulmädchen Report und wie sie hießen. Aber gut, das waren nicht die Filme, die mich interessiert haben.

STANDARD: Speziell bei Zwei himmlische Töchter durfte es auch frivol knistern.

Berben: Ja, klar, wir haben gern provoziert. Pfleghar hat immer gesagt hat, bei Ingrid Steeger muss der Sex im Körper sichtbar sein und bei Iris in den Augen, ja, und wahrscheinlich haben wir da mitgespielt. Sex ist doch auch aufregend, wenn er über Blicke kommuniziert.

STANDARD: Wie sieht Sex in den Augen aus?

Berben: Versprechen, Verführung, Selbstbewusstsein, das kann ja ganz vieles sein.

STANDARD: Somit haben Sie sich nie als Sexobjekt beim Film gefühlt?

Berben: Nein.

STANDARD: Und am Set?

Berben: Es ist immer eine Frage, wie man aufgetreten ist. Ich gehöre zur Generation, die in den Sechzigern für ein selbstbestimmtes Frauenbild auf die Straße gegangen ist, als der Minirock ein Statement war und nicht bedeutete, ich bin verfügbar für euch. Ich bin mit der britischen Designerin Mary Quant in London groß geworden und habe ein ganz anderes Selbstbewusstsein entwickelt. Wenn jemand übergriffig wurde – das haben wir alle erlebt –, konnte ich immer direkt darauf reagieren. Dass man heute sehr anders sensibilisiert ist, ist gut und richtig. Es lässt mich allerdings auch über die Frage nachdenken, was eigentlich aus dem Selbstbewusstsein der Frau geworden ist, für das wir so gekämpft haben.

STANDARD: Was meinen Sie?

Berben: Es gibt Frauen, die sich als Opfer sehen, die überfordert sind, die nicht dieses Selbstverständnis einer Frau auch für sich in Anspruch nehmen und sagen: Nimm die Finger da weg! Worüber wir reden müssen, ist, dass sich jemand überhaupt traut, seine Finger da hinzulegen. Das sind doch die Machtmechanismen, an denen wir arbeiten müssen. Das ist ein strukturelles Problem. Dass Männer in Machtpositionen es nicht als selbstverständlich nehmen können zu sagen: Dich nehme ich. Das gab es natürlich auch bei uns, und da hat MeToo eine Menge geleistet. Wobei dieses Machtausüben keine reine Männersache ist. Das kenne ich auch von Frauen.

"Natürlich kannte ich auch diese Sätze, dass jemand sagt, wenn du jetzt diesen Film machst, können wir mal essen gehen, dann ist vielleicht noch ein anderer Film drin. Da habe ich mich doch auf dem Absatz umgedreht!"

STANDARD: Wie läuft das dann ab?

Berben: Es ist nicht viel anders, es ist die Macht, die jemand hat. Machtmenschen beherrschen das – Männer wie Frauen.

STANDARD: Mit welchen Forderungen wurden Sie konfrontiert?

Berben: Natürlich kannte ich auch diese Sätze, dass jemand sagt, wenn du jetzt diesen Film machst, können wir mal essen gehen, dann ist vielleicht noch ein anderer Film drin. Da habe ich mich doch auf dem Absatz umgedreht!

STANDARD: Wie oft passierte so etwas?

Berben: Das kann ich gar nicht sagen. Es waren die 60er und 70er. Man kann die Ereignisse von damals nicht in den heutigen Kontext setzen. Natürlich will ich weiter flirten, und ich will auch, dass mit mir geflirtet wird. Das wird dir aber oft als Verrat an den Frauen ausgelegt, so einfach ist das nicht. Wir müssen an Strukturen arbeiten. Aber die heutige Generation geht sehr aufgeklärt und selbstbewusst damit um. Das ist gut so.

STANDARD: Viele haben sich genau wegen dieses Machtgefüges nicht getraut, etwas zu sagen.

Berben: Und deshalb bin ich ein schlechtes Beispiel. Ich habe mich immer gewehrt.

STANDARD: Sie haben nie Nachteile dadurch gehabt?

Berben: Ich habe bestimmt Nachteile dadurch gehabt.

STANDARD: Es gibt eine Episode mit dem inzwischen verstorbenen Regisseur Dieter Wedel und Ihnen.

Berben: Ich bin nach einem Vorfall zu ihm gegangen und habe gesagt: Bitte besetzen Sie mich um. Ich bin angstfrei, und ich war immer angstfrei. Aber das kann man nicht von allen verlangen, das kann man nicht verordnen. Trotzdem muss man meiner Meinung nach auch etwas aushalten. Ich höre von Beschwerden, ein Regisseur habe laut geschrien. Da wird etwas verwechselt, und das macht es schwierig. In der Kunst gibt es unterschiedliche Temperamente. Es gibt Menschen, die sich auf sehr ruhige Weise ausdrücken, welche, die selbst nervös sind, und solche, die leicht explodieren. Kunst spielt sich nicht zwangsläufig in einem harmonischen Umfeld ab, sondern im Gegenteil: Kunst bedeutet auch, dass man kämpft, sich Dinge und Situationen erkämpft. Das ist sehr individuell. Man kann nicht alles in diesen einen großen Topf stecken.

STANDARD: Sie sagen, Sie sind angstfrei. Hat Sie das vor Gröberem bewahrt?

Berben: Vielleicht, man weiß es ja nicht. Ich weiß ja nicht, wie ich gewesen wäre, wenn ich weggelaufen wäre oder mich geduckt hätte. Ich weiß, dass ich mir durch meine laute Klappe sicherlich auch viele Wege verbaut habe.

STANDARD: Wie geht es Ihnen mit Thomas Gottschalk, der bekannt ist für sein loses Mundwerk. Früher lachte man, heute wird er kritisiert. Sie waren oft zu Gast bei "Wetten, dass..?".

Berben: Dass man sich jetzt mit dieser Thematik besonders auseinandersetzt, halte ich für richtig und wichtig. Mich stört allerdings, wie sich darüber echauffiert wird, dass wir in unserer Generation solche Anzüglichkeiten zwar nicht hingenommen, aber doch mit einem Lächeln weggewischt haben. Wir leben heute in einer politisch korrekten Welt. Du musst aufpassen, dass du Frauen nicht das Gefühl gibst, du wärst ihr Gegner. Das bin ich nicht, im Gegenteil. Aber du musst den Kontext einer Zeit sehen, in der anders geurteilt wurde. Bei vielen der heute beanstandeten Übergriffigkeit fällt mir schwer, sie als solche zu sehen. Ich habe eine andere Vorstellung von Emanzipation und Selbstbestimmung, weil ich in einer Zeit groß geworden bin, in der Frauen ihre Ehemänner fragen mussten, ob sie arbeiten gehen oder ein eigenes Konto haben durften – bis 1972. Es waren fassbarere Situationen, für die man gekämpft hat.

STANDARD: Ist Political Correctness ein Rückschlag für den Feminismus?

Berben: Wir müssen auf der Basis des bereits Erreichten aufbauen, wir müssen behutsam sein, dass wir uns nicht zurückentwickeln und plötzlich merken, dass wir uns immer mehr reduzieren. Aber ich mache mich natürlich mit meiner Meinung auch immer angreifbar.

STANDARD: Was Sie als Angstfreie nicht fürchten.

Berben: Ich werde immer mal wieder zu meiner Meinung über Klimakleber gefragt. In den Sechzigern sind wir weit gegangen, und wir haben uns auch illegal verhalten. Deshalb habe ich Verständnis dafür, dass es diesen Weg gibt. Ich halte ihn nur nicht für den richtigen. Ich meine, dass du die Menschen, die du erreichen willst, damit nicht erreichst. Du erreichst jene, die sowieso schon differenziert über Klimaveränderung nachdenken, aber nicht jene, die Angst haben und nicht wissen, wie sie ihre Heizkosten bezahlen, oder, im besseren Fall, die sich schlicht um ihren Komfort Sorgen machen. Deshalb ist auch das verordnete Gendern kontraproduktiv. Es geht doch darum, dass wir Menschen in unserer Gesellschaft nicht ausgrenzen wollen, egal welche Hautfarbe, Religion, sexuelle Vorlieben sie haben. Wenn wir aus einer intellektuellen Blase heraus vorgeben, wie jemand zu reden hat, werden wir die, die wir erreichen wollen, nicht erreichen. Aber genau diese Menschen brauchen wir doch. Sprache verändert sich. Sprache hat sich immer verändert. Das Gendern ist in der Generation der Jungen schon verankert. Es wird zur Gewohnheit werden.

STANDARD: Wie kann man aber die erreichen, die man nicht mehr erreicht?

Berben: Das ist die Eine-Million-Dollar-Frage. Bildung ist das Erste. Wir haben uns hier in Deutschland lange ausgeruht und hinken mittlerweile in allem hinterher. Jetzt sind wir in einer Zeit, in der sich extrem viel sehr schnell verändert, der Krieg, die Inflation, das Klima. Die Menschen sind überfordert. Ich bin ja selbst häufig überfordert.

STANDARD: Was tun Sie gegen die Überforderung?

Berben: Ich schalte trotzdem den Fernseher und jedes Radio ein, weil ich informiert sein möchte, und setze mich damit auseinander. Das macht aber der Großteil schon gar nicht mehr, sondern die Leute gehen dahin, wo sie sich bestätigt fühlen. Wie kommen wir dagegen an? Die Welt wird sich weiterdrehen. Wir müssen Komplizen suchen und den Staffelstab möglichst gut weitergeben.

791 km | OFFIZIELLER TEASER TRAILER
Kinostart: 14. Dezember 2023 Regie: Tobi Baumann Drehbuch: Gernot Gricksch Mit Iris Berben, Joachim Król, Nilam Farooq, Lena Urzendowsky, Ben Münchow Eine Produktion von PANTALEON Films und ProU Producers United Film in Koproduktion mit SevenPictures Film
Filmwelt Verleih

STANDARD: Die Frage des Staffelstabs wird im Film 791 KM praktisch permanent gestellt. Es geht um eine Fahrgemeinschaft, die in ihren Weltanschauungen weiter nicht auseinanderliegen könnte. Sie spielen eine esoterisch angehauchte Idealistin. Sehen Sie Ähnlichkeiten mit ihr?

Berben: Ich sehe sie. Es kommt nicht ganz von ungefähr, dass ich da mit jungen Menschen am Bahnhof sitze und von meinen eigenen Erfahrungen rede. Ich sehe mich in ihrer Neugier, in ihrer Weltoffenheit, in ihrem Bedürfnis, Herausforderungen positiv anzugehen. Ich habe diesbezüglich einen naiven Glauben, dass die Menschheit lernfähig ist.

STANDARD: Marianne, Ihre Figur, sagt: Wir haben in der Frauenbewegung einiges erreicht, aber das ist leider ein Kollateralschaden. Was meint sie damit?

Berben: Da geht es um Selbstoptimierung, die auch für mich wenig mit Feminismus zu tun hat. Ich gehe einen anderen Weg.

Im Film
Im Film "791 KM" nimmt Marianne eine Mitfahrgelegenheit wahr und trifft dabei auf höchst konträre Typen. Iris Berben, davor Joachim Król.
Constantin Film

STANDARD: Zum Beispiel?

Berben: Nicht mitrennen. Nicht die Messlatte, die man mir von außen anlegt, erfüllen, sondern meine eigene suchen. Was will ich und was nicht? Dieser permanente Zwang zur Selbstoptimierung füttert eine Erwartungshaltung, die von außen kommt. Du musst aber deinen Weg, deine Temperatur finden. Der eine fühlt sich wohl, weil er ein Start-up gegründet hat, und der andere, weil er wahnsinnig gerne im Kindergarten mit Kindern arbeitet. Und wieder andere fühlen sich wohl, weil sie gerne zu Hause ihre drei Kinder erziehen. Es ist individuell.

STANDARD: Sie hatten nie das Gefühl, Sie müssen funktionieren?

Berben: Ich muss funktionieren – in meinem Beruf! Da bin ich stoisch. Ich habe mir die Nächte um die Ohren geschlagen, Drogen konsumiert, ich war aufsässig und vorlaut. Aber wenn es darauf ankam, habe ich funktioniert. Weil ich in meiner Arbeit als Schauspielerin ein Rad von hundert anderen im Team bin. Wenn ich da nicht funktioniere, bricht das auseinander.

STANDARD: Gibt's die Undisziplinierten noch?

Berben: Die, die zu spät kommen und alle warten lassen? Die gibt's vereinzelt noch. Die Art von Kräftemessen gibt es. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr mich das langweilt.

STANDARD: Ist das nicht auch schade, wenn der Starkult verloren gegangen ist?

Berben: Nein, den Starkult kannst du auch woanders festmachen, an deinem Marktwert zum Beispiel. Die letzte Diva war Maria Callas. Eine Diva kannst du heute nicht mehr sein, weil man dich ins Wohnzimmer holt. Da sitzt du mit einem verblödeten Schlafanzug und hast eine Semmel in der Hand. Früher war die Diva – oder "der Divo", wir wollen korrekt bleiben – unnahbar.

STANDARD: Die Klaus Kinskis und Helmut Bergers gibt's nicht mehr.

Berben: Es hat sie gegeben, es wird sie wahrscheinlich nie wieder geben. Die ganze Branche hat sich verändert. Mit den Möglichkeiten der Medien bist du für die Leute ständig verfügbar. Viele geben alles von sich preis. Wo ist denn noch das Geheimnis? Früher hat sich eine Diva dadurch ausgezeichnet, dass sie ein Geheimnis hatte. Ich versuche mein Privatleben so zurückhaltend wie möglich zu führen. Aber ich sehe auch, wie Kolleginnen und Kollegen alles vermarkten. Erst die Hochzeit, dann die Trennung, dann das Kind, dann der Hund und so weiter.

STANDARD: Warum machen die das?

Berben: Warum machen die das? Vielleicht gibt es immer noch dieses Bedürfnis, in einer besonderen Wolke zu leben. Ich finde, die Wolke, auf der ich spaziere, schön und sehr weich.

"Durch die Handys habe ich manchmal das Gefühl, zum Abschuss freigegeben zu sein. Da wäre ich manchmal gerne ein bisschen unsichtbar."

STANDARD: Zudringliche Menschen waren nie das Problem?

Berben: Das hat sich geändert. Durch die Handys habe ich manchmal das Gefühl, zum Abschuss freigegeben zu sein. Da wäre ich manchmal gerne ein bisschen unsichtbar. Das Fotografiertwerden ist etwas sehr Intimes, du wirst in einem Moment festgehalten, den du nicht bestimmen kannst und dem du wahrscheinlich nicht zugestimmt hättest. Und die, die das Foto gemacht haben, schauen dich auf ihrem Handy an. Das bist du. Das finde ich eng.

STANDARD: Sagen Sie in einer solchen Situation etwas?

Berben: Wenn ich es merke, ja. Man sollte fragen, man hält nicht einfach die Kamera auf jemanden. Diese Verfügbarkeit hat etwas Übergriffiges.

STANDARD: Schränkt Sie das in Ihrem Tun, in Ihren Handlungen ein?

Berben: Ja, indem ich mich noch unsichtbarer mache. Eine gute Zeit – ich meine das nicht zynisch – war die Maskenzeit in der Pandemie. Ich habe Maske getragen, solange es nur ging.

STANDARD: Da werden sich jetzt Menschen beschweren und sagen: Ja, aber das ist ja ihr Beruf, und sie muss das aushalten.

Berben: Tue ich ja. Ich beschwere mich nicht. Ich spreche von Übergriffigkeit. Ich freue mich über jedes Lächeln, das man mir schenkt. Mir sind ebenso die abschätzigen Blicke bekannt, wenn jemandem der Film nicht gefallen hat oder mein politisches Engagement. Ich spreche von den Situationen, die ich nicht unter Kontrolle haben kann.

STANDARD: Sie sagten in einem Interview mit dem STANDARD, dass Sie sich einen Hund zugelegt haben, damit Sie jemanden haben, mit dem Sie vor die Tür gehen – ganz einfach, weil Sie müssen.

Berben: Und alle guckten immer nur auf den Hund. Das war wunderbar.

STANDARD: Was wurde aus ihm?

Berben: Paul Berben ist mittlerweile im Hundehimmel. Er starb mit 17 und war die Reinkarnation von Buster Keaton.

STANDARD: Wieso denn das?

Berben: Weil Paul einen melancholischen Humor hatte wie Buster Keaton, und denselben Blick.

STANDARD: Für Melancholie haben Sie definitiv keine Zeit. Die Filmangebote reißen offenbar nicht ab. Wie entgehen Sie der vielzitierten Altersdiskriminierung von Frauen beim Film?

Berben: Da muss man den Streamern ein gutes Zeugnis ausstellen. Nehmen wir Jane Fonda und Lily Tomlin – sie machen Frauen in unserer Branche sichtbar – nicht als Beiwerk, sondern mit ihren Geschichten. Ich kann in dem Zusammenhang voller Freude auf Triangle of Sadness verweisen. Ein Film, der mir deshalb gefällt, weil er einen scharfen Blick auf unsere Gesellschaft wirft. Mich haben 18- und 80-Jährige auf den Film angesprochen. Wenn du die gute Geschichte hast, gibt es nicht diesen Trichter. Ja, es gibt die Blockbuster und die Marvel-Filme für ein relativ junges Publikum. Aber es gibt das, was ich gerne den erwachsenen Film nenne. Da ist sicherlich etwas geöffnet worden, und wir müssen ordentlich dranbleiben, damit diese Tür weit geöffnet bleibt und irgendwann keine Tür mehr ist, sondern ein selbstverständlicher Raum für jedes Alter.

In der Disney+-Serie
In der Disney+-Serie "Deutsches Haus" spielt Iris Berben eine jüdische KZ-Überlebende, die im Auschwitz-Prozess 1963 aussagt.
Krzysztof Wiktor/Disney/Gaumont

STANDARD: In der Streamingserie "Deutsches Haus" spielen Sie eine Auschwitz-Überlebende und haben eine beeindruckende Szene im Gerichtssaal, in der Sie Zorn, Trauer, Verzweiflung den Tätern entgegenschmeißen und die von einer unsagbaren Kraft ist. Wie haben Sie das gespielt?

Berben: Ich hatte großen Respekt vor dieser Szene. Die Figur ist Fiktion, aber sie ist keine Fiktion für das, was sie erzählen muss. Das bringt Verantwortlichkeit mit. Ich tat mir so schwer mit der polnischen Sprache und war sogar so weit, die Rolle aufzugeben. Man gab mir eine polnische Dolmetscherin, die mit mir übte, aber es blieb schwierig, weil ich merkte, dass ich mich mehr auf die Sprache konzentrierte und nicht spielte. Mit einem Akzent zu spielen kann auch danebengehen. Die Szene vor Gericht haben sie mich dann in einem durchspielen lassen, knappe fünf Minuten, ungeschnitten mit zwei Kameras, da wird der Beruf noch mal so schön. So intensiv und so gut.

Deutsches Haus - Offizieller Trailer - Ab 15. November nur auf Disney+ streamen | Disney+
Eine Serie, die das Unausgesprochene ausspricht: Die neue Original Serie „Deutsches Haus" ist die erste filmische Aufarbeitung des Frankfurter Auschwitz-Prozesses von 1963. Geschrieben von Annette Hess, die auch als Showrunnerin verantwortlich zeichnet, und pr
Disney Deutschland

STANDARD: Weil es ein Moment der Wahrhaftigkeit ist.

Berben: Ich glaube, Wahrhaftigkeit ist tatsächlich das Wort. Alles von mir ist weg, keine Schauspielerin mehr. Das hatte ich zuletzt bei Triangle of Sadness. Ruben Östlund hat uns Szenen zwischen 40- und 60-mal spielen lassen, damit wir als Schauspieler verschwinden. Er will nicht, dass du die Figur spielst, sondern dass du sie bist.

STANDARD: Wie hat Ihre Szene bei den Kollegen in Deutsches Haus gewirkt?

Berben: Manche haben geweint, waren wirklich erstarrt. Danach war ein langes Schweigen. Was für ein Glück ich doch habe, solche Rollen spielen zu dürfen.

STANDARD: Was wäre, wenn niemand mehr etwas von Ihnen wollen würde?

Berben: Das wäre schade. Ich habe mit 50 ein Jahr lang keine Rollen angenommen, weil ich wissen wollte, wie sich das anfühlt.

STANDARD: Und?

Berben: Danach habe ich weitergemacht. Es ist das Richtige für mich.

STANDARD: Erschreckend in Deutsches Haus ist das auch Schweigen der Menschen über den Holocaust. Die junge Dolmetscherin wusste nichts über Auschwitz, weil niemand ihr davon erzählt hatte – im Jahr 1963. Haben Sie das auch so erlebt?

Berben: Ich musste auch Fragen stellen. Keiner wollte reden.

STANDARD: Aber haben Sie auch Antworten bekommen?

Berben: Ja, aber da war ich 18, und auch nur, weil ich nach Israel gefahren bin. Seitdem weiß ich, dass wir Verantwortung übernehmen müssen für unsere Geschichte. Ich mache mir aber auch Sorgen um unsere jetzige Demokratie. Sie wackelt.

STANDARD: So sehr, dass sie fällt?

Berben: Ich glaube schon, dass wir eine kraftvolle Gesellschaft sind. Aber dass man sich überhaupt damit beschäftigen muss, diese Demokratie noch mal zu verteidigen, ist ein neuer Gedanke.

STANDARD: Würden Sie sich grundsätzlich als Optimistin bezeichnen?

Berben: Unbedingt, sonst gewinnen die Pessimisten, und das will ich nicht. Ich will glauben, dass wir standhaft und wehrhaft sind. Aber viele werden gerade sehr alleine gelassen.

STANDARD: Streift da ein kleiner Zweifel den Optimismus?

Berben: Ja. Aber Zweifel ist mein zweiter Name. Hätte ich einen Künstlernamen, hieße ich Iris Zweifel. (Doris Priesching, 9.12.2023)

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