Die meisten Palästinenser sehen sich als Opfer von Vertreibung, Flucht und israelischer Besatzung. Für viele Israelis hat das Massaker der Hamas das eigene Opferbewusstsein, das auch auf die Erfahrung mit Judenverfolgungen zurückgeht, noch einmal gestärkt.
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Vor 30 Jahren interviewte ich den großen palästinensischen Intellektuellen Edward Said in New York. Es war kurz nach der Unterzeichnung des Oslo-Abkommens, das Said in Vorahnung des späteren Scheiterns ablehnte. Als ich behauptete, dass die Suche nach Frieden auch dadurch erschwert werde, dass sich Palästinenser und Israelis beide als Opfer fühlen, reagierte er entrüstet: "Wir sind die wahren Opfer: von unserem Land vertrieben, unter militärischer Besatzung ... Die Frage ist nicht, wann die Israelis aufhören, sich als Opfer zu fühlen, sondern wann die Palästinenser aufhören, Opfer zu sein."

Die Antwort Saids, der 2003 starb, war inhaltlich nachvollziehbar. Aber sie verdeutlichte genau das Problem, auf das die Frage zielte – und das sich seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober noch verschärft hat. Denn während sich die Palästinenser seit der Staatsgründung Israels im Jahr 1948, als Hunderttausende zu Flüchtlingen wurden, mit gutem Grund als Opfer sehen, tun Israelis das genauso. Sie beziehen sich dabei auf die lange Geschichte der Judenverfolgung, die in der Shoah unter dem NS-Regime ihren tragischen Höhepunkt erreichte; auf den Unabhängigkeitskrieg 1948, als die Armeen von fünf arabischen Staaten den jungen Staat angriffen; auf die unzähligen Terroranschläge in Israel und Europa durch palästinensische Gruppen – die Fedajin, die PLO, die PFLP und in den vergangenen 30 Jahren vor allem die Hamas und der Islamische Jihad; sowie die lautstarken Auslöschungsdrohungen der Möchtegern-Atommacht Iran.

Blutigster Tag seit 1945

Der Schock des 7. Oktober hat all diese Ängste vervielfacht. Erstmals sahen sich Israelis einem bewaffneten Mob gegenüber, der nur das Ziel hatte, jüdisches Leben auszulöschen. Der blutigste Tag für Jüdinnen und Juden seit 1945 erweckt alle kollektiven und individuellen Traumata wieder. Auch viele Israelis, die die Besatzungspolitik verurteilt und Verständnis für die Anliegen der Palästinenser gezeigt haben, fühlen jetzt nur eines: Sie sind Opfer, die anderen sind die Täter.

Aus palästinensischer Sicht ist es umgekehrt: Die israelischen Angriffe im Gazastreifen, bei denen schon bis jetzt weitaus mehr Zivilisten getötet wurden als beim Massaker der Hamas, sind ein weiteres Beispiel für den Leidensweg des Volkes, an dem hauptsächlich Israel Schuld trage, beginnend mit der Nakba (Katastrophe) von 1948. Dem folgte die Besatzung des Westjordanlands und des Gazastreifens seit 1967, der laufende Ausbau der jüdischen Siedlungen, die Repression durch Israels Armee mit Checkpoints, Verhaftungen und unzähligen Toten, die Enteignung von Wohnhäusern in Ostjerusalem, die Blockade des Gazastreifens seit der Machtübernahme der Hamas, die wiederkehrenden Militäroperationen, die nun den größten Blutzoll seit Beginn des Konflikts fordern.

Beide Seiten finden sich in einer Opfer-Täter-Umkehrspirale wieder. Sie fühlen sich dabei im Recht – und haben auch weitgehend recht. Aber wie Roger Cohen vor kurzem in der New York Times schrieb, führt diese Dynamik in ein psychologisches Patt, das Versöhnung fast unmöglich macht. "Jede Seite fordert den Status eines Fünf-Sterne-Opfers", zitiert Cohen Mohammad Darawshe vom Givat Haviva Center for Shared Society, eine der jüdisch-arabischen Friedensinitiativen in Israel. "Wer in einem Opferstatus steckt, sieht im anderen nur den unmenschlichen Täter." Und tatsächlich ist die Bereitschaft, im anderen den Menschen zu erkennen, in diesem Konflikt an einem Tiefpunkt angekommen. Seit dem 7. Oktober verweigern das viele Israelis, die davor für Frieden waren, bei Palästinensern, weil sie sich selbst durch sie entmenschlicht fühlen – nicht nur durch die Hamas. Die Zustimmung, ja Begeisterung, die das Massaker bei so vielen Palästinensern ausgelöst hat, bestätigt diesen Eindruck. Und das Gleiche empfinden die Palästinenser angesichts der tausenden Toten durch israelische Bomben im Gazastreifen.

Quelle für internationale Konflikte

Dieses Phänomen ist in diesem Konflikt zwar besonders stark ausgeprägt, aber es ist nicht neu. Der Opferstatus ist seit jeher eine Quelle für internationale Konflikte und Kriege. Wenn ein Staat den anderen angreift, dann meist aus dem Gefühl heraus, dass ihm zuvor Unrecht angetan wurde, was nun Entschädigung oder gar Vergeltung rechtfertigt. Das war im Ersten Weltkrieg genauso der Fall wie im NS-Regime, das im Versailler Friedensvertrag das historische Unrecht sah, das alle seine Aggressionen legitimierte.

Auch Wladimir Putins Überfall auf die Ukraine ist von der Überzeugung gespeist, Russland sei ein Opfer der Nato und des Westens. Der Terror der Al-Kaida, allen voran die Angriffe vom 11. September 2001, wurde mit den Sünden der USA begründet, wie der nun über Tiktok verbreitete angebliche Brief von Osama bin Laden an Amerika illustriert. Ebenso wurden die Jugoslawienkriege in den 1990er-Jahren von oft jahrhundertalten Opfermythen angefeuert.

Zunehmende Polarisierung

Auch die zunehmende gesellschaftliche Polarisierung in westlichen Demokratien lässt sich zum Teil über die zunehmende Beachtung für den Opferstatus verschiedener Gruppen erklären. Wenn Gruppen, die aufgrund von Sexismus oder Rassismus diskriminiert werden, das Unrecht anprangern, das ihnen angetan wird, dann tun sie das meist mit gutem Grund. Aber die öffentliche Aufmerksamkeit und die dadurch entstehende Rücksichtnahme lösen bei anderen ebenfalls das Gefühl aus, man sei nun Opfer. Das mag bei heterosexuellen weißen Männern zwar unbegründet oder zumindest deutlich überzogen sein. Aber es schlägt sich in politischen Ansichten und im Wahlverhalten nieder, die konkrete Folgen haben. Die Wähler von Donald Trump, Geert Wilders, der AfD oder der FPÖ sehen sich tatsächlich als Opfer. Ihre Wut entspringt der Überzeugung, dass sie von den linken, "woken" Eliten und deren kulturell-gesellschaftlicher Hegemonie verachtet und diskriminiert werden.

Zwar mag unter Jugendlichen "Opfer" als Schimpfwort dienen, aber im öffentlichen Diskurs bringt der Opferstatus scheinbar nur Vorteile. Er stärkt die eigene Identität, er verschafft Aufmerksamkeit für die eigenen Probleme und dadurch womöglich auch materielle Hilfe. Am wertvollsten dürfte für viele die moralische Überlegenheit sein, die man als Opfer gegenüber den mutmaßlichen Tätern gewinnt. Auch das ist eine Form der Macht.

In unserer Gesellschaft werden Opfern heute regelmäßig Rechte zugesprochen – im Falle von sexuellem Missbrauch vor allem der Anspruch, dass einem geglaubt wird. Der mutmaßliche Täter verliert dadurch ein ebenfalls wertvolles Recht – das der Unschuldsvermutung. So wird auch er zumindest subjektiv zum Opfer.

Polarisierung in der Gesellschaft

Anders als andere Ansprüche sind Rechte nicht verhandelbar. Wenn zwei Gruppen dann auf ihre gegensätzlichen Opferrechte pochen und der anderen Seite den Opferstatus absprechen, dann spaltet sich die Gesellschaft in feindliche Parteien, die sich beide im Recht fühlen. Diese Polarisierung erleben wir derzeit fast täglich in den sozialen Medien genauso wie in den politischen Debatten, sie vergiftet die öffentliche Debatte und das Denken so vieler Menschen. Was als zivilisatorischer Fortschritt gedacht war, kann eine Gesellschaft um Jahre zurückwerfen.

Menschen und Gruppen, die auf ihren Opferstatus pochen, übersehen meist den Preis, den sie persönlich oder kollektiv dafür bezahlen. Wer Opfer ist, erwartet Hilfe von anderen und vernachlässigt dabei die Wege, sich selbst zu helfen. In der Psychotherapie gilt eine andauernde Opferrolle oft als Hindernis, um Traumata zu überwinden und zu einem normalen Leben zurückzukehren.

Der Fokus auf die Sünden des Kolonialismus in weiten Teilen der afrikanischen Gesellschaft steht einer besseren Wirtschaftspolitik oft im Weg – wenn man es etwa mit Ostasien vergleicht, wo wenig über die koloniale Vergangenheit gesprochen wird. Auch die palästinensische Gesellschaft hat durch das Verharren im Opferstatus Schaden erlitten. Millionen leben noch heute dichtgedrängt in Flüchtlingslagern und sind von UN-Hilfe abhängig. Die Opferrolle wurde von den meisten arabischen Gastländern, die sie nie integriert haben, auch bewusst prolongiert.

Gefahr der Überreaktion

Und wer, wie jetzt die israelische Gesellschaft, aus einem Opferbewusstsein heraus zur Selbsthilfe greift, verliert allzu leicht die Proportionen aus den Augen. Das erlittene Unrecht, dank dem man sich im Recht fühlt, erschwert die moralische und pragmatische Abwägung der angemessenen Reaktion. Wenn Israel mit klarem strategischen Ziel die Hamas bekämpft, ist das eine Sache. Wenn die Regierung Netanjahu aber diesen Konflikt in den Kontext der Erfahrung des jüdischen Volkes mit der Shoah setzt, dann wird eine militärische Überreaktion wahrscheinlicher.

Das deutsche Wort Opfer hat zwei unterschiedliche Bedeutungen, für die es in anderen Sprachen eigene Begriffe gibt – auf Englisch etwa "victim" und "sacrifice". Es mag viel verlangt sein, von Menschen und Gruppen, die sich aus gutem Grund als Opfer fühlen, zu fordern, dass sie diesen Status opfern – "to sacrifice your victimhood". Aber wer Versöhnung, Frieden und die für eine liberale Gesellschaft so notwendige Suche nach Kompromissen anstrebt, der sollte das eigene Opfergefühl abmildern oder ganz zurücknehmen. "Sei kein Opfer", will man manchmal auch jenen zurufen, die objektiv gesehen Opfer sind. (Eric Frey, 3.12.2023)