H. C. Artmann hatte nicht nur ein Gesicht wie eine Landschaft, sondern auch nichts dagegen, im Bett mit Schirm fotografiert zu werden.
Sepp Dreissinger

Standard: Sind Sie eigentlich ein Star, Herr Dreissinger?

Dreissinger: In Deutschland vielleicht, da bin ich anerkannter als hier. Dort weigern sich Redakteure sogar, meine Fotos in Zeitungen abzudrucken, weil sie mir ihr lächerliches Honorar nicht zumuten wollen.

Standard: Eine schöne Form der Anerkennung. Und hier gelten Sie gar nichts?

Dreissinger: Hier wird man schnell als Promifotograf abgestempelt!

Standard: Sie hätten auch Fußballer werden können.

Dreissinger: Ich war in Vorarlberg ein trickreicher Linksaußen, mit dem Ball fast so gut wie mit der Gitarre, die ich in einer Band gespielt habe. Erst mit 27 bin ich in Wien zur Fotografie gekommen mit einer Fujica, die ich um 1000 Schilling in einem Gebrauchtwarengeschäft gekauft habe. Danach bin ich in Salzburg über das Café Mozart eingetaucht in das dortige Künstlerbiotop, das Café war am Abend fast immer leer, also habe ich angefangen, mit meinem eigenen Geld dort Lesungen und Konzerte zu organisieren: Gerhard Polt und die Biermösl Blosn, André Heller, Dieter Hildebrandt, H. C. Artmann, Friedrich Gulda u. a. Für die Plakate habe ich selbst die Fotos der Künstler gemacht, so hat es angefangen.

Standard: Solche Leute hat man damals einfach am Festnetz erreicht?

Dreissinger: Das hat damals noch funktioniert, fragen Sie mich nicht, wie. Ich hatte nie eine Agentur oder so was, hab alles am Nachmittag nach der Schule, als ich noch Musik unterrichtet habe, selbst organisiert. Im Nachhinein ist sowieso alles wie im Märchen, wenn ich mir das dicke Buch mit fast 500 Seiten jetzt anschaue, da erschrickt man ja fast vor seinem eigenen Werk.

Sepp Dreissinger, "365 Portraits". Grafische Gestaltung: Heike Schäfer. € 59,– / 465 Seiten. Album-Verlag, Wien 2023

Standard: Dabei waren Sie als Vorarlberger wohl kein natural-born Künstlerfreund in der elitären Mozartstadt. Mussten Sie den Gulda im Goldenen Hirschen unbedingt in der langen Unterhose fotografieren?

Dreissinger: Er hatte nichts dagegen! Das Foto hat er anfangs sehr gerne mögen! Aber irgendwann – nach Jahren – hat er mich gebeten, es nicht mehr zu veröffentlichen.

Standard: Mochten Sie die Schwierigen?

Dreissinger: Je schwieriger, desto besser. Der Gulda war nicht einfach, der Bernhard erst recht nicht, ebenso die Maria Lassnig.

Friedrich Gulda
Friedrich Gulda auf dem Fahrrad.
Sepp Dreissinger

Standard: Dafür hat der Artmann "ein Gesicht wie eine Landschaft" gehabt, wie man gerne sagt.

Dreissinger: Absolut. Es gibt Leute, die kann man nicht schlecht fotografieren. H. C. war immer freundlich, sogar, als er einmal grad vom Spital heimgekommen ist, da hab ich gesagt: Du erinnerst mich an das Der arme Poet-Bild von Carl Spitzweg, jetzt fehlt nur noch der Schirm. "Hol mir den Schirm, Irene!", hat er gesagt zu seiner damaligen Geliebten, und so ist das bekannte Foto entstanden. Das war vielleicht das einzige Mal, dass ich was in Richtung "Inszenierung" gemacht habe, sonst habe ich ja nie gesagt: Schau so, tu das! Hand ans Kinn! Nie! Ich hab die Leute immer dort fotografiert, wo und wie sie gerade waren.

Standard: Die Lassnig auch nie inszeniert?

Dreissinger: Die hat sich selbst immer inszeniert: Sie hat gesagt: "Jetzt machen wir auf Depression, auf lustig, auf tot." Und warum nicht! Ich hab sie kennengelernt, da war sie schon 80, und die hat dann schon gewusst, wen sie an mir hat, ich hab jeden Tag Anrufe bekommen: "Hier ist die Maria Lassnig, bitte ruf mich an, ich bin verzweifelt!" Einmal bin ich mit ihr am Wiener Meiselmarkt einkaufen gegangen, da war sie schon 85, und kein Mensch hat sie erkannt, im Alltag war sie ja keine Diva. Aber wenn sie eine Ausstellung gehabt hat in New York, in Zürich oder Köln, da war sie auf einmal eine Königin mit Krawatte und Sonnenbrille.

Standard: Gibt es Gesichter, wo Sie wissen, das wird nichts?

Dreissinger: Es gibt welche, wo ich das, was sie machen, nicht mag. Darum könnte ich sie nie fotografieren.

Standard: Namen?

Dreissinger: Keine Namen, nur so viel: zwei bekannte Fernsehgesichter mit ihrer bekannten Fernsehshow, die sie Kunst nennen, mit der ich überhaupt nichts anfangen kann. Pure Arroganz!

Standard: Verstehe. Was fasziniert Sie denn an Gesichtern?

Dreissinger: Als junger Mensch sah ich das Gesicht eines alten Bauern, das van Gogh in Südfrankreich gemalt hat, da bin ich darin versunken.

Standard: Van Gogh malte alte Bauern, Sie fotografierten alte Hausmeister in Berlin, Wien und Paris.

Dreissinger: Zu mir haben die Leute ja immer gesagt: Wenn du den Bernhard nicht gehabt hättest, wärst du eh nie bekannt geworden. Dabei habe ich die Hausmeister schon viel früher fotografiert.

Sepp Dreissinger im Kaffeehaus
Dreissinger mit Peter Henisch im Kaffeehaus: "Es gibt Leute, die kann man nicht schlecht fotografieren."
Heribert Corn

Standard: Für "Zeit"-Interviewer André Müllerfotografierten Sie seine Interviewpartner.

Dreissinger: Der Müller war schwierig. Das skandalöse Peymann-Interview hab ich für ihn angestoßen. "Mach doch ein Interview mit ihm!" Der Peymann ist aber schwer zu fotografieren, der monologisiert immer, so macht er es einem Fotografen schwer, den berühmten magischen Moment zu bekommen. Aber die meisten Künstler waren immer sehr umgänglich, ich hab mit keinem je ein Problem gehabt. Von den hunderten Anfragen haben vielleicht drei abgesagt. Ich wundere mich selbst, warum sich die Leute mir gegenüber so öffnen.

Standard: Weil Sie nicht bedrohlich sind.

Dreissinger: Richtig.

Standard: Wie war der Deix?

Dreissinger: Manfred hat rund um die Uhr gearbeitet, ein wunderbarer Typ. Der hat sich halt leider durch sein ununterbrochenes kreatives Arbeiten innerlich verbrannt.

Standard: Der Brandauer?

Dreissinger: Ich kenne ihn auch schon seit 40 Jahren, neulich hab ich ihn im Café Eiles getroffen, da hat er gerade mit jemandem telefoniert und ihm gesagt: Ich sitze gerade mit dem Dreissinger, er ist der beste Fotograf der Welt. Na ja, sagt er halt so …

Standard: Cartier-Bresson schätzte Sie auch.

Lucia Westerguard
Lucia Westerguard und ihr Saxophon.
Sepp Dreissinger

Dreissinger: Der hat mein Buch Hauptdarsteller/Selbstdarsteller als tolle Idee empfunden, er sagte, das hätte er selbst gerne gemacht.

Standard: Wie reich sind Sie denn geworden?

Dreissinger: Gar nicht. Von Künstlern verlange ich ja nie Geld für die Fotoporträts, die ich von ihnen mache. Nur dann, wenn jemand schriftlich anfragt und ein größeres Thomas-Bernhard-Bild kaufen will oder das Porträt von Leopold Hawelka mit seinem wirbelnden Brotkorb auf seinem Zeigefinger als Erinnerung an bessere Kaffeehauszeiten in seiner Wohnung aufhängen will.

Standard: Gibt’s wen, den Sie gerne fotografiert hätten?

Dreissinger: Den James Dean. Da gibt es dieses Foto, wo er mit seinem aufgeschlagenen Mantelkragen auf der nassen Straße irgendwo in Amerika geht, das hätte ich gerne gemacht. (Manfred Rebhandl, 3.12.2023)