Rechtsliteratur steht auf einem Tisch aufgereiht.
Nur bei wenigen Delikten im Strafgesetzbuch droht eine lebenslange Freiheitsstrafe – Anführer eines Drogenringes zu sein gehört dazu.
APA / HARALD SCHNEIDER

Wien – Auch am neunten und letzten Verhandlungstag versucht Verteidiger Werner Tomanek, das Gericht davon zu überzeugen, dass die Grundlagen, auf denen das Drogenverfahren gegen seinen Mandanten Dario D. beruht, nicht rechtens seien. Denn der 35-jährige Serbe leugnet seit Beginn des Prozesses, tatsächlich der Statthalter eines Clans zu sein, der in mindestens 333 Fällen hunderte Kilogramm Heroin, Kokain und Marihuana nach und durch Österreich gebracht und verkauft hat. Staatsanwalt S. ist dagegen überzeugt, genau das belegen zu können – denn die von der Gruppe verwendeten Mobiltelefone waren nicht so abhörsicher wie gedacht.

Im Gegenteil: Dabei handelte es sich einerseits um die "SkyEEC"- und andererseits um die "Anom"-Handys. Erstere wurden von einem kanadischen Unternehmen auf den Markt gebracht, nach offizieller Darstellung gelang es französischen, belgischen und niederländischen Beamten in einer von der EU-Agentur Europol koordinierten Aktion allerdings, Server in Frankreich zu beschlagnahmen, mit deren Hilfe die Kommunikation entschlüsselt werden konnte. Letztere waren überhaupt eine Falle der US-amerikanischen Bundespolizei FBI. Sie lancierten die Geräte verdeckt in einschlägigen Kreisen und lasen und sahen fast in Echtzeit mit.

Der Ankläger kann sich also auf zehntausende Seiten Chatprotokolle und Sprachnachrichten berufen, die den schwunghaften Handel mit den illegalen Substanzen aus seiner Sicht klar belegen. Pikantes Detail: Eine der "Bunkerwohnungen", in denen die Rauschmittel gelagert und für den Weiterverkauf vorbereitet wurden, soll sich nur eine Straße vom Landesgericht für Strafsachen Wien entfernt befunden haben. Dort – also im Landesgericht, nicht in der Wohnung – ist Staatsanwalt S. aufgrund der vorliegenden Informationen überzeugt, dass der zweifach vorbestrafte Angeklagte, der sich selbst den Spitznamen "Dexter" – ein Serienkiller aus einer US-Fernsehshow – gab, an der Spitze der Organisation in Österreich stand.

Wunsch nach deutschen Urteilen

Aus Sicht von Verteidiger Tomanek und seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sind diese Daten für das Verfahren aber irrelevant. Noch vor Verlesung der Fragen an die Geschworenen bringen D.s Rechtsvertreter also einen Antrag auf Verlesung der Urteile des Landgerichts Memmingen und des Oberlandesgerichts München ein. Gerichte, die ein Beweisverwertungsverbot für die Anom-Chats verfügt haben. Ihre Begründung: Das FBI hatte den deutschen Ermittlern zwar die Daten zur Verfügung gestellt, sich aber geweigert, nähere Auskünfte darüber zu geben, ob sie auf rechtskonformem Weg beschafft wurden.

Die Berufsrichter lehnen den Antrag aber ab – deutsche Gerichtsentscheidungen seien für Österreich irrelevant, argumentiert der Vorsitzende des Geschworenengerichts. Ein weiteres Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wiederum, das Tomanek ebenso gerne gehört hätte, beziehe sich auf einen völlig anderen rechtlichen Sachverhalt. Dann beginnt die stundenlange Verlesung der Fragen an die Laienrichterinnen und -richter.

Erst gegen 15 Uhr bekommen Staatsanwalt und Verteidiger die Gelegenheit, in ihren Schlussplädoyers noch einmal ihre Sichtweise darzulegen. Der hörbar kränkelnde Staatsanwalt bedankt sich zunächst für die Geduld der Geschworenen. Die Frage der Verwertung der Anom- und SkyECC-Daten sieht er als "rechtsphilosophisch" interessant an – in Österreich habe der Oberste Gerichtshof sie aber zugelassen. Da die Nachrichten für sich selbst sprechen würden, gehe es im Endeffekt nur um die Strafhöhe. Da D. bereits zu 13 Jahren wegen schweren Raubes verurteilt wurde, sei bei einer Strafdrohung von zehn bis zwanzig Jahre oder lebenslang eine Zusatzstrafe von sieben Jahren zu gering. "Wenn der Gesetzgeber eine lebenslange Haft vorsieht, muss es auch einen Fall geben, wo diese Strafe passt. Das ist so ein Fall", appelliert er an die Geschworenen.

"Jugo-Mafia" und DDR

Verteidiger Tomanek sieht in dem Verfahren hingegen "juristisches Neuland" durch die Verwendung der Chats. "Das hat sich alles während der Corona-Lockdowns abgespielt. Niemand hätte von diesen Jugo-Mafia-Geschichten gewusst, wenn das FBI die Daten nicht geliefert hätte", sieht er im Rauschmittelvertrieb kein großes Problem für die Gesellschaft. Umso mehr sorgt sich Tomanek aber hinsichtlich der staatlichen Sammelwut von Daten. Wenn es zulässig sei, Daten zu verwerten, bei denen unklar sei, ob sie rechtmäßig erlangt wurden, "ist es so was wie in der DDR, wo stichprobenartig Briefe geöffnet wurden, um zu schauen, ob da etwas Strafbares drin steht".

Auch bei der Strafhöhe fordert der Verteidiger Zurückhaltung. "Es geht um 450 Kilogramm. Was geben Sie dann einem, der zehn Tonnen handelt? Der Angeklagte ist vielleicht der Filialleiter in Wien gewesen. Aber das ist nicht der Drogenbaron, für den die lebenslange Haft gedacht war", hofft Tomanek auf maximal 20 Jahre.

D. selbst nutzt die Chance zu einem ausführlichen Schlusswort in seiner charakteristisch heiseren Stimme. Zunächst mit einer Themenverfehlung: "Ich habe niemanden getötet oder verletzt", eröffnet er dem Gericht, das ist aber auch nicht angeklagt. Er verweist darauf, dass in Serbien eine Verurteilung wegen Mordes noch nicht rechtskräftig und der österreichische Prozess gegen ihn aus seiner Sicht "verfassungswidrig" sei. Dass er die ersten beiden Monate in Untersuchungshaft keinen Besuch empfangen durfte, stört ihn ebenso wie die Tatsache, dass er seine Frau und Kinder im Gefängnis nur selten sehen kann.

Bemitleidenswerte Geschworene

Eine Entscheidung treffen die Geschworenen eigentlich recht rasch, es dauert aber, bis man erfährt, wie sie ausfällt. Denn die 333 einzelnen dem Angeklagten vorgeworfenen Fakten müssen auch bei der Urteilsverkündung von den beiden bedauernswerten weiblichen Geschworenen verlesen werden. Diese stundenlange erschöpfende Prozedur fordert eine im Oktober 2020 veröffentlichte Entscheidung des Obersten Gerichtshofes, der damals nicht ausschließen wollte, dass die Kontrolle der Justiz durch die Öffentlichkeit gefährdet sein könnte, wenn die Verlesung der gestellten Fragen nicht wortwörtlich erfolgt.

Nach deutlich über zwei Stunden erfährt man schließlich das Abstimmungsergebnis: Die Laienrichterinnen und -richter sprechen D. einstimmig, aber nicht rechtskräftig, schuldig. Die Zusatzstrafe zu den 13 Jahren Gefängnis wegen schweren Raubes: Eine lebenslange Haftstrafe.

Vorbei ist die Angelegenheit damit aber noch nicht. Sollte ein europäisches Höchstgericht in Zukunft zu dem Schluss kommen, dass die Chats als Beweise nicht ausreichen oder generell nicht vor Gericht verwertbar seien, würde "Dexter" wohl freigelassen werden, da er ja beharrlich leugnete. (Michael Möseneder, 1.12.2023)