Selbst in der Untersuchungshaft hinterlässt die Meidlinger Jugendgang bereits ihre Spuren.
Zeichnung Armin Karner

Sie haben einen Pakt geschlossen – in einem Meidlinger Park nach der Schule. Nun gibt es für Hasan, Firat und Zinedin kein Zurück mehr. Was im Park besiegelt wird, das gilt.

Darum stehen die Burschen – 15, 14 und 17 Jahre jung – an einem Septembernachmittag im Halbkreis um die Zapfsäule einer Tankstelle. Sie füllen eine kleine Menge Benzin in zwei Plastikbecher ab. Zinedin zahlt 70 Cent dafür. Die Kassiererin fragt nicht nach.

Jetzt sind Hasan und Firat dran. Hinter einem Hausvorsprung in einer nahegelegenen Gasse ziehen sie sich Sturmhauben über die Köpfe und Latexhandschuhe über ihre Hände. Das Benzin leeren sie in eine Bierflasche, stopfen Küchenrolle in deren Hals: ein Molotowcocktail.

Der Anschlag mit dem Molotowcocktail wurde von den Überwachungskameras des Shops eingefangen – auch die Flucht der Angreifer ist zu sehen.
LPD Wien

Dann geht alles ganz schnell. Hasan schleudert den Brandsatz durch die Tür eines Handygeschäfts. Die brennende Flasche knallt an eine mit Handyhüllen bestückte Wand. Sie bleibt auf dem Boden vor der Verkaufstheke liegen. Es entsteht ein Rußfleck, der Schaden ist minimal. Verletzt wird niemand. Doch bei diesem Angriff bleibt es nicht.

Nur eine Woche später wird dem Shopbesitzer, einem 47-jährigen Afghanen, von einem Burschen im Fußballtrikot eine blaue Schachtel unter die Nase gehalten. Darin liegt eine Patrone. Und ein Brief mit einem sogenannten Friedensangebot: 25.000 Euro oder Konsequenzen für die Familie und das Geschäft. Der bedrohliche Nachsatz: "Die Polizei ist euer Todesurteil." Den Familienvater packt die Angst. Zur Polizei geht er trotzdem.

Doch warum passiert das alles? Warum schmieden gewöhnliche Jugendliche ein mutmaßlich hochkriminelles Komplott? Und was führen sie tatsächlich im Schilde?

Der Park als Mittelpunkt

Das ist die Geschichte von neun jungen Männern im Alter von 14 bis 20 Jahren, deren Leben sich bis zu ihrer Inhaftierung um einen Meidlinger Park dreht. Es ist ihr regelmäßiger Treffpunkt, die Mehrheit der Gruppe wohnt ganz in der Nähe. Oft lernen die Jugendlichen einander "im Park" erst so richtig kennen.

Der Park, das ist ein unscheinbarer Ort, mit einem Spielplatz, einer kleinen Grünfläche, Bänken und Fassaden voller Graffitis. Und doch scheint er im Mittelpunkt einer Serie an Verbrechen zu stehen.

Nur wenige Schritte vom Park entfernt befindet sich der Handyshop, den die Bande in unterschiedlichen Konstellationen den gesamten September lang mit Angriffen terrorisiert – mit Molotowcocktails, Böllern und einem bewaffneten Raubüberfall samt Handydiebstahl.

Mit jedem der Angriffe auf das Geschäft stachelt sich die Bande gegenseitig zu immer größeren Aktionen an. Dabei wirken sie wie skrupellose Machos. "Nächste Aktion das wird fett Medien gehen", feiern zwei der Burschen in Chats. "Wir ficken sein laden", schreibt einer davon. "Entweder er zahlt oder es wird gesperrt." So nebenbei besprechen die beiden, wer aus der Gruppe mit einer Pistole angreifen könnte: "Ab da die wüssten dass sie mit wirklichen mutherfuckers zu tun haben." Den Shopbesitzer wollen sie "dumm und deppat fetzen".

Jene Patrone lag dem Erpresserschreiben bei. Es handelt sich um Munition für ein Sturmgewehr. Vielleicht für jenes, das die Polizei vergeblich sucht.
LPD Wien

Als die Polizei einige der Jugendlichen Ende September in Untersuchungshaft nimmt, wird für die Beamten schnell deutlich, dass das keine leeren Worte sind. Ein paar der Burschen sind bewaffnet. Bei einer der Razzien entdecken die Ermittler neben einer Softair-Pistole eine Machete, einen Schlagring und scharfe Ninja-Sterne. In Chats posiert ein Beschuldigter offen mit Waffen und stellt klar: "Das ist echte, damit kann man töten."

Fotos auf einem sichergestellten Smartphone deuten zudem darauf hin, dass die Bande im Besitz von zumindest einem AK-47-Sturmgewehr samt Munition sein könnte. Bisher suchte die Exekutive die Waffe allerdings vergeblich. Geordert worden sei sie in Tschechien.

Auch eine zwei Kilo schwere Bombe wollen die Burschen selbst gebastelt haben, um den Handyshop "zu vernichten". Das sagt zumindest einer der Beschuldigten in seiner Einvernahme voller Stolz aus. Und fügt frech an: Die Bombe werde die Polizei nie finden. Damit behält er vorerst recht – sofern der Sprengsatz wirklich existiert. Innerhalb der Gruppe kursierte ein Bild von etwas, das dem verdächtig nahekommt.

Die soziale Klammer

Aber mit wem haben es die Sicherheitsbehörden hier eigentlich zu tun? In der öffentlichen Wahrnehmung krimineller Jugendlicher besteht die Sehnsucht nach einer klaren Etikettierung des berüchtigten Kollektivs. In Boulevardmedien ist dann in Schlagzeilen etwa über "Tschetschenen-Banden" zu lesen: Von der gemeinsamen Herkunft scheint man sich eine Erklärung der sozialen Klammer zu versprechen, die solche Gruppen zusammenhält.

Bei der neunköpfigen Partie aus dem Meidlinger Park kommt man mit derart plakativen Ansätzen nicht weit. Mit dabei sind etwa ein syrischer Flüchtling, ein in Wien geborener Österreicher und der Sohn einer bosnischen Migrantenfamilie. Einer wohnt in einer Caritas-Wohngemeinschaft, andere zu Hause bei ihren Eltern. Manche gehen noch in die Schule, einer arbeitet am Wochenende im Supermarkt, andere haben jede Ausbildung abgebrochen und pendeln untertags unstet zwischen Parks und Fitnessstudios hin und her. Auch der gemeinsame Rausch taugt nicht als das alterstypisch verbindende Element: Alkohol und Drogen gelten bei den muslimischen Burschen als verpönt, so sagen sie es jedenfalls der Polizei.

Das fehlende Wohnzimmer

Das gilt auch für den 17-jährigen Zinedin, der sich als einer der Chefs der Bande aufführt. Sein Vater ist Imam, die Familie lebt im Gebäude einer Wiener Moschee. Da er daheim kein eigenes Zimmer und kaum Privatsphäre habe, sei er lieber "draußen unterwegs", erzählt Zinedin in der Polizeieinvernahme.

Regeln akzeptiert er ungern, und das mit Erfolg – zumindest aus seiner Sicht. Früher hätten ihm die Eltern das Handy weggenommen, wenn er zu spät nach Hause gekommen sei. Da er sich trotzdem nicht an Zeitvorgaben gehalten habe, hätten Mutter und Vater aufgegeben. Sie sollen sinngemäß gesagt haben: "Wenn er das bis jetzt nicht gelernt hat, wird er es auch nicht mehr lernen."

Der Meidlinger Park ist für die Burschen als zweites Wohnzimmer auch deshalb so attraktiv, weil viele eigentlich kein erstes Wohnzimmer haben. Die Familien leben mit vielen Kindern auf engem Raum, die meisten müssen sich ein kleines Zimmer mit Geschwistern teilen.

Drohung mit Smiley

Derzeit gibt es keinen Ausweg ins Freie mehr. Seit Ende September sitzen die mutmaßlichen Bandenmitglieder hinter Gittern in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen neben schwerem Raub, Erpressung und Nötigung auch die Bildung einer "kriminellen Vereinigung" vor – also einen längerfristigen Zusammenschluss zur Begehung von Straftaten. Aber sind das die Jugendlichen tatsächlich?

Dem Anschein einer mafiösen Professionalität der Burschen steht ihr oft gedankenloses und bisweilen kindlich-naives Verhalten bei der Ausführung ihrer Pläne entgegen. Ein Verdächtiger führte etwa eine Liste über potenzielle Einnahmen von Schutzgelderpressungen und notierte "Foltermethoden" für zahlungsunwillige Opfer. Ihr Erpresserschreiben an den Handyshopbesitzer beenden sie dann aber groteskerweise mit einem Smiley.

Andere Gangmitglieder wiederum tappen gut erkennbar ins Visier einer Überwachungskamera, als sie an einer Tankstelle das Benzin für ihren Molotowcocktail in einen Plastikbecher tropfen lassen. Beim mutmaßlichen Autodiebstahl denken die Burschen zwar an die Handschuhe, um keine Spuren zu produzieren, lassen dann aber ein schussunfähiges Sturmgewehr im Kofferraum liegen.

Razzia lieber "draußen"

Stellenweise blitzen in den Chats auch Skrupel durch – vor allem, wenn es um die Folgen ihrer Machenschaften für die eigene Verwandtschaft geht. Eine Hausdurchsuchung wolle er der versammelten Familie nicht antun, schreibt da einer: "Wenn ich gefasst werden sollte, dann draußen während ich spaziere aber zuhause gestürmt werden fett kein Bock." Sein Freund pflichtet ihm bei: "Bruder zu hause ist fett maya. Wegen Eltern und so."

Aber selbst in der Untersuchungshaft hinterlässt die Meidlinger Gang bereits ihre Spuren. Einer der Jugendlichen wurde mehrfach handgreiflich und ging einem seiner Mithäftlinge an die Gurgel. Und kürzlich mussten gleich etliche Burschen innerhalb des Strafvollzugs verlegt werden.

Ein Beweisstück gegen die mutmaßliche Bande: der Erpresserbrief als "Friedensangebot". Das Smiley am Ende ist einigermaßen fehl am Platz.
LPD Wien

Ein bisher kooperativer Verdächtiger soll von seinen ehemaligen Kumpanen derart eingeschüchtert worden sein, dass er plötzlich alle Schuld für die mutmaßliche Schutzgelderpressung auf sich nehmen wollte. Dem schob nun der zuständige Staatsanwalt einen Riegel vor und sperrte die Burschen weit genug auseinander, dass kein Kontakt mehr möglich ist. Im Gefängnis wird zudem versucht, durch Bewährungshilfe und Männerberatung auf die Jugendlichen einzuwirken.

Was bleibt nun von dieser Verbrechensserie? Zunächst einmal der Eindruck, dass das noch nicht alles gewesen sein muss. Aus dem mittlerweile mehr als 3000 Seiten dicken Ermittlungsakt, der dem STANDARD vorliegt, sind etliche Dokumente von der Akteneinsicht ausgenommen, weil sie "sensible Informationen" enthalten. Es ist nämlich gut möglich, dass sich noch Mitwisser der Meidlinger Bande in Freiheit befinden.

Mitte November führte die Polizei eine Razzia bei einem 14-Jährigen durch, bei dem ein schussfähiges Sturmgewehr vermutet wurde. Gefunden wurde zwar nichts dergleichen. Der Bursche erzählte aber ganz offen, dass ein mutmaßlicher Kopf der Bande zuvor Dinge bei ihm zwischengelagert habe, "die er selbst nicht zu Hause hätte haben wollen". Er habe all seine verbotenen Schusswaffen vor seinem 14. Geburtstag entsorgt, seinen Elektroschocker habe er aber erst weggeworfen, als einer seiner Freunde im Zuge der Causa verhaftet wurde.

Manche reden, andere nicht

Bei der Kooperation mit den Behörden verhalten sich die inhaftierten Beschuldigten unterschiedlich. Hasan und Firat beispielsweise gaben zu, den Anschlag mit dem Molotowcocktail verübt zu haben, und lieferten den Ermittlern zudem wichtige Hinweise. Zinedin verweigerte jede Aussage dazu. Für alle Verdächtigen gilt grundsätzlich die Unschuldsvermutung.

Und wie geht es für den Besitzer des Handyshops weiter? Das "äußerst hohe Gewalt- und Bedrohungspotenzial" der Bande ist aus Sicht der Ermittlungsbehörden "weiter aufrecht". Der 47-Jährige und seine Familie stehen seit Wochen unter Personenschutz.

Dass bei den Anschlägen nie jemand verletzt wurde, liegt am Ende auch am Opfer selbst. Er löschte den Brand geistesgegenwärtig mit dem Feuerlöscher. Der Schock in der Familie sitzt allerdings weiterhin tief. Nur durch Zufall seien sie bei dem Anschlag nicht getroffen worden. "Ich habe noch heute schreckliche Angst", sagt die Frau des Betreibers in ihrer Vernehmung. "Wir hätten sterben können." (Muzayen Al-Youssef, Theo Anders, Jan Michael Marchart, 2.12.2023)