Tal Yeshurun (Mitte): "Die Welt darf die Hamas auf keinen Fall legitimieren."
APA/JAKOB ILLE

Neun Angehörige von Tal Yeshurun wurden am 7. Oktober nach Gaza verschleppt. In den Tagen der Waffenruhe konnten acht von ihnen – darunter die dreijährige Yahel und der achtjährige Naveh – wieder nach Israel zurückkehren. Der Vater der Kinder, der Österreicher Tal Shoham, befand sich am Samstag aber immer noch in der Gewalt der Hamas. "Wir müssen alle Geiseln zurück nach Hause bringen", sagt Yeshurun im Gespräch mit dem STANDARD. "Das ist die oberste Priorität."

STANDARD: Wie haben Sie erfahren, dass Ihre Familienmitglieder zu Geiseln wurden?

Yeshurun: Ich war beruflich in den USA, an der Westküste. Als wir schlafen gingen, erzählte ein Onkel mir am Telefon, dass es Raketen gibt und dass sie jetzt in den Schutzraum gehen – aber alles sah normal aus. Als wir aufwachten, war es in Israel schon Nachmittag. Ich hatte Unmengen an Anrufen und Whatsapp-Nachrichten von Menschen, die um Hilfe baten. Es war surreal. Nach drei Tagen kam die Nachricht, dass Paul, der Pfleger des behinderten Onkels, gefunden wurde. Er war tot. Von den anderen dachten wir, sie seien verschleppt worden.

Dann vergingen zehn Tage, und wir erfuhren, dass auch der Onkel ermordet worden war. Und erst drei Wochen nach dem 7. Oktober hörten wir vom Tod der Tante. Dann wussten wir, dass neun Mitglieder der Familie in Gaza sind. Acht von ihnen sind inzwischen befreit, aber Tal (Shoham, Anm.) ist noch in Gaza.

STANDARD: Wurden die Ermordeten bestattet?

Yeshurun: Onkel und Tante wollten eine Feuerbestattung – aber es gab nicht viel zu verbrennen, nicht mehr als einen kleinen Ziploc-Beutel. Auch von ihrem Haus im Kibbuz Beeri ist fast nichts übrig. Sogar das Glas im Haus ist geschmolzen. Vor ein paar Jahren wurde in Beeri ein neues Viertel gebaut, mein Onkel und meine Tante waren dort hingezogen. Es war das Viertel, das am nächsten zur Gaza-Grenze war. Man sieht Gaza ganz gut von ihrem Balkon – oder man konnte es sehen.

STANDARD: Wie geht es den befreiten Familienangehörigen?

Yeshurun: Alle sprechen sehr leise, alle haben rund zehn bis 15 Prozent ihres Körpergewichts verloren. Man macht noch medizinische Checks, um zu sehen, ob wirklich alles okay ist. Ich bin erleichtert, dass sie physisch im Großen und Ganzen in Ordnung sind, aber man kann sich vorstellen, was sie am 7. Oktober alles mitansehen mussten. Und danach die 50 Tage in Gaza. Wir wollen keinen Druck machen, dass sie erzählen sollen. Sie sollen Zeit dafür haben. Darum habe ich mit ihnen noch nicht direkt darüber gesprochen.

STANDARD: Wenn es nach Ihrer Familie geht: Wie sollte sich Israel nun verhalten? Zugleich die Hamas zu bekämpfen und die übrigen Geiseln zu befreien ist ein Dilemma ...

Yeshurun: Ich hoffte, die Feuerpause ginge weiter und alle Geiseln würden befreit. Alle sollen zurück nach Hause gebracht werden – das ist die oberste Priorität.

Kriegsgebiet
Zerstörte Straßen, wohin das Auge blickt.
REUTERS/IBRAHEEM ABU MUSTAFA

STANDARD: Was, wenn die Hamas im Gegenzug die Freilassung aller palästinensischen Gefangenen verlangt?

Yeshurun: Für uns ist es traurig zu sehen, dass die Welt unsere dreijährige Yahel mit drei palästinensischen Gefangenen vergleicht. Aber ich denke: Alles, was Israel machen kann, um die Geiseln zu befreien, soll man machen. Alle Gefangenen freizulassen – ja, wer weiß, vielleicht bereiten wir da nur den nächsten 7. Oktober vor. Wenn wir aber eine stärkere Haltung gegen Terrorismus einnehmen, haben wir vielleicht eine Chance. Jedenfalls müssen wir alle übrigen Geiseln nach Hause bringen.

STANDARD: Dem Kriegsziel Vernichtung der Hamas stimmen Sie zu?

Yeshurun: Ich sehe keine Zukunft mit der Hamas, und die Welt darf die Hamas auf keinen Fall legitimieren. Vielleicht kann es eine Art Graswurzelbewegung in Gaza geben, die dann die Führung dort übernimmt. Man kann es nur hoffen. Ich hoffe, dass die Zivilisten einen sicheren Platz bekommen in diesem Krieg, dass aber alle Hamas-Kämpfer vernichtet werden.

Danach soll Gaza wiederbelebt werden, mit einer neuen Regierung. Und mit mehr Verknüpfungen zwischen Israel und Gaza. Jede Initiative ist willkommen: zusammen studieren, zusammen arbeiten, gemeinsame Projekte planen – nur das kann zum Frieden führen.

STANDARD: Wie geht es den Kindern, Yahel und Naveh?

Yeshurun: Ich glaube, sie hatten insofern Glück, als ihre Mutter Adi bei ihnen war. Viele andere Kinder hatten dieses Glück nicht. Aber man muss wissen, dass sie am 7. Oktober nur zu Besuch in Beeri waren, sie sind nicht aus dieser Region. Sie sind aus Raanana (nahe Tel Aviv, Anm.), kennen also das alles nicht – die Raketen jeden Tag, in zehn Sekunden zum Schutzraum zu rennen, diesen Alltag kennen sie nicht. Und plötzlich war das konkret.

Jetzt ist es am besten für sie, wieder daheim zu sein und im engsten Familienkreis und mit den Freunden Zeit zu verbringen. Das hilft ihnen am meisten. Ich weiß aber auch, dass sie jede Hilfe, die sie brauchen, bekommen – Psychotherapie, Physiotherapie. Aber wie soll eine Dreijährige eine Erklärung dafür finden, was da passiert ist?

STANDARD: Haben Sie eine Erklärung dafür, wie der Horror vom 7. Oktober geschehen konnte?

Yeshurun: Nein. Es gibt tausende schreckliche Erzählungen, und jeden Tag kommen neue heraus. Ich versuche, das dann zu visualisieren, mich selbst darin zu sehen. Wie würde ich reagieren, was kann man machen? Aber man kann es nicht verstehen. Es ist einfach zu viel an Hass und Gewalt, es ist zu schockierend.

Trotzdem müssen wir jetzt aufstehen und die Welt darauf hinweisen, dass es passiert ist und dass es noch schlimmer hätte sein können. Aber ja, eigentlich sollten die Polizei und das Militär überall in Israel in 20 Minuten sein. Und am 7. Oktober hat es Stunden gedauert. Das wird man noch untersuchen müssen.

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AFP

STANDARD: Sie leben mit Ihrer Familie in Irland. Wie erleben Sie hier den wachsenden Antisemitismus?

Yeshurun: Ich habe Poster mit den Fotos der Geiseln aufgehängt. Diese Poster überleben nicht einmal eine Nacht. Wenn ich am Morgen mit dem Hund rausgehe, ist alles weg. Oder die Poster sind noch da, aber die Gesichter der Kinder sind weggekratzt – oder jemand hat "israelische Propaganda" draufgekritzelt. Letztens habe ich in der Nähe Hakenkreuze gesehen und Poster mit Gewaltaufrufen, man sieht Hamas-Terroristen mit Waffen und dem Slogan "Wir hören nie auf".

Die Iren sehen sich immer als Kämpfer gegen Imperialismus, vor allem gegen den britischen Imperialismus. Und das zelebrieren sie – auch in Bezug auf Israel.

STANDARD: Überlegen Sie, mit Ihrer Familie zurück nach Israel zu gehen?

Yeshurun: Ja, auf jeden Fall. Das war einer der ersten Gedanken, die wir hatten. Vielleicht klingt es komisch, aber ich würde mich sicherer fühlen, wenn ich mit Raketen beschossen würde, als wenn ich hier nicht sicher sein kann, was meine Nachbarn wirklich über mich denken. Es weckt Ängste und Erinnerungen an das, was meine Großeltern, die aus Nazideutschland flüchten mussten, mir erzählt haben. Vielleicht ist es ein bisschen paranoid, aber so fühlt es sich an.

Und der 7. Oktober hat uns gezeigt, dass wir nicht apathisch sein dürfen. Wir müssen aufpassen. (Maria Sterkl, 1.12.2023)