Totem
Schrammte auf der Berlinale nur knapp an einer Auszeichnung vorbei: die Kinderdarstellerin Naíma Sentíes als Sol.
Limerencia Films

Wenn die ersten Kerzen im Advent angezündet werden, hat auch die Oscarsaison offiziell begonnen. Kurz vor Weihnachten, am 21. Dezember, wird die Oscar-Shortlist veröffentlicht. Darauf stehen Jahr für Jahr auch die Filme, die sich für den sogenannten Auslandsoscar qualifiziert haben. Für Österreich geht heuer Vera von Tizza Covi und Rainer Frimmel ins Rennen, der bei uns bereits letztes Jahr über die Kinoleinwände flimmerte.

In zwei Wochen kommt dann Wim Wenders’ wunderbare Ode an das Alleinsein Perfect Days in die Kinos, der für Japan die goldene Statuette erobern will. Nun startet Tótem, Lila Avilés’ Oscaranwärter aus Mexiko, und man kann dem kleinen, aber überaus einfühlsamen Film nur wünschen, dass er die Aufmerksamkeit bekommt, die er verdient hat.

Fokussiertes Kammerspiel

Für ihr Familienkammerspiel Tótem zieht sich die junge mexikanische Filmemacherin ins beengte 4:3-Format zurück, in eine zwischen Ausgelassenheit und Anspannung schwankende Atmosphäre des Wartens. Das schmale Bild ist kein Konterkarieren einer Konvention, wie es etwa Kelly Reichhardt in Meek’s Cutoff oder First Cow intendiert hat (als Kontrapunkt zum Westerngenre). Stattdessen ist Tótem vollkommen fokussiert auf seine Figur, die siebenjährige Sol, auf ihr Warten, ihr Hoffen und – letztendlich – ihr Abschiednehmen.

Polyfilm Verleih

Am Geburtstag ihres Vaters liefert Sols Mutter ihre Tochter im Haus des Großvaters ab. Dort herrscht reges Gewusel, denn am Abend soll eine große Geburtstagsfeier für Sols Vater stattfinden. Der aber ist todkrank und wird, abseits des Trubels, gepflegt. Sol, die gerne zu ihm möchte, aber immer wieder von der Pflegerin abgewiesen wird, muss warten.

Formen der Trauer und der Liebe

Durch das Warten wird Sol zur genauen Beobachterin. Ihre Tante Nuria versucht ihren Kummer wegen der Krankheit ihres Bruders im Alkohol zu ertränken. Die andere Tante, die die Rolle der Mutter angenommen hat, kommandiert die Familie herum und lädt eine Schamanin ins Haus ein, um die bösen Geister zu vertreiben. Sols Großvater wiederum ist auf eine Sprechhilfe angewiesen und kümmert sich, mit grimmigem Blick, am liebsten um seine Pflänzchen, die das kreative und farbenfrohe Haus schmücken.

Die Figurenkonstellationen verweben sich zu einem äußerst feinen Konstrukt, das den verschiedenen Formen der Trauer, des Abschiednehmens und der Liebe – zum Bruder, Sohn, Freund, Geliebten und Vater – Gestalt gibt. Ein berauschender und ergreifender Film. (Valerie Dirk, 2.12.2023)