Der Norden des Gazastreifens sei eine Kampfzone, seine Bewohnerinnen und Bewohner sollten in den Süden fliehen. So lautete die Anweisung des israelischen Militärs an die rund zwei Millionen Bewohnerinnen und Bewohner des Küstengebietes, als im Oktober, nach dem pogromartigen Terror der Hamas gegen Zivilisten im Süden Israels, der Krieg begann. Hunderttausende leisteten dem Aufruf Folge – 400.000 halten sich laut Uno derzeit in der Stadt Rafah nahe der ägyptischen Grenze auf, weitere 300.000 sind nach Khan Younis geflüchtet, das im Zentrum von Südgaza liegt. Genau diesen Ort aber sollen sie, warnte Israels Militär am Wochenende, wieder verlassen.

Denn bestimmte Regionen der Stadt sind nach dem Ende der Waffenruhe am Freitag in den Fokus der Kämpfe gerückt. Sonntagabend gab Israels Regierung bekannt, dass sie den Einsatz der israelischen Bodentruppen auf das gesamte Gebiet des Gazastreifens ausgedehnt habe – und zwar, laut Berichten des israelischen Armeeradios, in den Norden von Khan Younis. Im Süden des Gazastreifen werde man, wie der israelische Armeechef Herzi Halevi am Abend sagte, "genauso stark und gründlich" kämpfen wie zuvor im Norden. Israel dürfte vermuten, dass Führungsfiguren der Hamas sich nun in Khan Younis versteckt halten.

Nach der Warnung Israels vor Angriffen flüchteten zahlreiche Menschen am Sonntag aus der Stadt Khan Younis im südlichen Gazastreifen.
AFP/MAHMUD HAMS

Israel hatte für die Fortsetzung der Kämpfe zuvor ein neues Konzept vorgestellt, mit dem nach den Worten der Armee die Zahl ziviler Opfer verringert werden soll. Auf einer Karte des Gazastreifens, die die Armee präsentierte, ist dieser in hunderte Sektoren unterteilt. Die Armee will auf Basis dieser Karte mitteilen, in welchen Sektoren als Nächstes angegriffen wird.

Sektorenkarte für Gaza

In Gaza tätige Hilfsorganisationen zweifeln an der Effektivität dieser Maßnahme: Zum einen, weil Strom und Mobilfunknetze zur Nutzung der Karte sehr begrenzt sind. Zum anderen, weil jenen, die auf Anweisung Israels von Norden in den vermeintlich sicheren Süden geflohen sind, nun das Vertrauen in die neuen und gänzlich anderen Angaben fehle. Israel entgegnet darauf, man tue eben, was man könne. Und auch zum Filmen freigelassener Geiseln für ihre eigenen Propagandazwecke habe die Hamas schließlich Strom gefunden, fügte ein Militärsprecher im Sender Sky News an.

Erstmals seit drei Wochen haben am Samstag auch die Gesundheitsbehörden in Gaza, die nach wie vor von der Hamas kontrolliert werden, neue Opferzahlen zu dem Konflikt veröffentlicht. Sie sprechen von 15.400 Toten und mehr als 40.000 Verletzten. Diese Zahlen lassen sich unabhängig nicht prüfen. Allerdings haben sich ähnliche Angaben bei früheren Konflikten im Nachhinein als weitgehend korrekt erwiesen.

Angesichts der wieder aufflammenden Kämpfe haben auch führende Vertreterinnen und Vertreter der US-Regierung am Wochenende zunehmend deutliche Worte gefunden. Zwar wich Präsident Joe Biden nicht von seiner bisherigen Linie ab, Israel öffentlich nur Unterstützung auszusprechen. Doch wurde seine Vizepräsidentin Kamala Harris bei Äußerungen am Rande des Klimagipfels von Dubai deutlicher.

Das Ausmaß des menschlichen Leides und Bilder und Videos aus Gaza seien erschütternd, sagte sie. Verteidigungsminister Lloyd Austin nannte die USA bei einem Verteidigungsforum in Kalifornien zwar "Israels engsten Freund auf dieser Welt", sprach aber auch von der "moralischen Verantwortung" des Landes, Zivilistinnen und Zivilisten zu schützen. Wenn man die Menschen "in die Arme seiner Gegner treibt", sagte er zudem, offenbar mit Blick auf das Handeln der israelischen Regierung, "riskiert man, aus einem taktischen Sieg eine strategische Niederlage zu machen".

Weiter Raketenbeschuss

In Israel verweist man hingegen darauf, dass auch nach knapp zwei Monaten Krieg die militärischen Fähigkeiten der Hamas nicht ausreichend gekappt seien. Am Wochenende beschossen die Islamisten mit Raketen den Großraum Tel Aviv, wo aber das Abwehrsystem Iron Dome die Geschosse unschädlich machen konnte. Anders am Sonntag, als in der nah am Gazastreifen gelegenen Stadt Sderot eine Rakete in einer Synagoge einschlug und dabei massiven Sachschaden anrichtete.

Im Zuge des bisherigen Krieges will Israel im Gazastreifen schon 800 Tunnel der Hamas entdeckt und 500 Eingänge zerstört haben. Wie lange der Konflikt noch dauern könnte, lässt das Land weiterhin offen. "So lange es dauert", sagte ein Armeesprecher der Washington Post; jedenfalls "mehr als nur ein paar Wochen", so ein anderer dem Medium Axios. Öffentlich bestätigt hat Regierungssprecher Mark Regev am Wochenende den Plan, Pufferzonen am Rand des Gazastreifens einzurichten. Berichte, wonach die menschenleeren Gebiete mehrere Hundert Meter bis zwei Kilometer breit sein sollten, kommentierte er nicht. Der Gazastreifen selbst ist zwischen sechs und 14 Kilometer breit.

Solange gekämpft wird, besteht die Gefahr neuer Eskalation. Sonntag sorgte die Meldung über Drohnenangriffe auf zwei Frachtschiffe und die USS Carney der US-Marine im Roten Meer für Aufsehen – wobei Letztere unbeschädigt blieb. Wenig später meldeten die jemenitischen Huthis, sie hätten "zwei israelische Schiffe" angegriffen. Dies wäre, sofern sich die Meldung auf die gleichen Angriffe bezieht, faktisch falsch: Einer der angegriffenen Frachter hatte keinerlei Verbindung zu Israel, der andere war aktuell an eine Firma verleast, die teils in israelischem Besitz steht. (Manuel Escher, 3.12.2023)