Wenn ich daran zurückdenke, was wir früher gebechert haben. Und erst gepofelt! Im Flugzeug auf der Maturareise, untertags im Kaffeehaus, nach der Arbeit im Wirtshaus, in kleiner und in großer Runde mit Kolleginnen, Bekannten und Fremden, die zu Saufkumpanen und Freunden für eine Nacht wurden. Heute scheint mir das weit weg und aus der Zeit gefallen zu sein. Denn eine neue Nüchternheit macht sich breit. Das Thema Rausch ist ernster geworden.

Exzesse gönnt die Öffentlichkeit vielleicht noch Rock- und Popstars. Aber sie werden immer weniger. Man liest kaum mehr etwas über zertrümmerte Hotelzimmer, Sex-Eskapaden oder Tode im Zusammenhang mit Drogenmissbrauch. Es wirkt fast so, als gebe es keine schlechten Vorbilder mehr, denen man nacheifern könnte. Warum auch? Wer will schon so enden wie die bedauernswerten Mitglieder des berühmt-berüchtigten Club 27, siehe Amy Winehouse oder Kurt Cobain, die allesamt ein frühes, tragisches Ende fanden.

Nichts zu trinken wird auf einmal als lässige Attitüde innerhalb der Leistungsgesellschaft verkauft. Als direkter Weg zu einem neuen, optimierten Selbst. Für einen ausgelassenen Abend in der Bar möchten heute immer weniger Leute mit eingeschränkter Leistungsfähigkeit am nächsten Tag zahlen

Das Selbst optimieren

Vielleicht liegt’s an Social Media? Dort präsentieren sich die Stars und Influencer großteils als Sauberfrauen und -männer. Es wird Sport getrieben, auf die (vegane) Ernährung geachtet, viel Wasser getrunken. Die Nacht wird für den Schönheitsschlaf genutzt und nicht für wilde Partys. Wollten wir uns in meiner Jugend noch regelmäßig "abschießen", findet man heute eher das Gegenteil cool. Man lebt offenbar möglichst abstinent, feiert den Sober October, den Dry January, macht sich Sorgen um den Klimawandel, legt ein ethisches, empathisches Verhalten an den Tag. Selbstzerstörung und toxische Männlichkeit sind total out. Selbstoptimierung ist angesagt, gerne mithilfe einschlägiger Gesundheits-Apps.

"Die moderne Gesellschaft zielt offenbar nicht darauf ab, ein rauschhaftes Subjekt zu konstituieren, sondern ein von Vernunft geleitetes und arbeitsames, welches durch das ihm anerzogene Maß an Selbstkontrolle als zurechnungsfähig und verlässlich behandelt werden kann", befindet der deutsche Soziologe Markus Schroer. Kommt es doch zum Exzess, findet dieser in einem sozialverträglichen Rahmen statt. Möglich ist der kollektive Rausch in genau abgesteckten Grenzen in der Freizeit. Festivals zum Beispiel, wo die "Jugend" unter Beobachtung von Security und Notfallsanitäter die Sau rauslassen darf. Hier wird der weitgehend unproblematische Hedonismus in vorgegebene Bahnen geleitet. Feste und Feiern haben zivilisatorischen Standards zu genügen, was man bedauern mag, aber auch für eine Errungenschaft halten kann. Längst werden auf diese Weise ganze Erlebnisökonomien geschaffen. Und der Markt erfindet Produkte, die beides ermöglichen: Spaß in der Freizeit und "Präsenz" im Job. Die neue Lust an der Abstinenz ist ein großes Geschäft. Das Fotomodell Bella Hadid ist 2021 eingestiegen, die Sängerin Katy Perry hat seit 2022 ihr eigenes Lifestylegetränk – einen mit allerlei Ingredenzien aufgemotzten Grüntee namens "Golden Hour", wie die NZZ berichtet: "Das hat zwar seinen Preis, aber hey: Wer gesund lebt, sieht gut aus und ist sexuell erfolgreicher." Wer bei der Arbeit konzentriert ist, statt verkatert blauzumachen, kommt weiter und bringt es letztlich zu Wohlstand. Das ist das implizite Versprechen, das von der neuen Nüchternheit propagiert wird.

Die Vernünftigen haben ja recht. Welcher Genussmensch legt etwa bei der Statistik des Epidemiologieberichts "Sucht 2022" nicht die Stirn in Falten? Demzufolge weisen 15 Prozent der österreichischen Bevölkerung ein problematisches Trinkverhalten auf. In absoluten Zahlen sind das rund eine Million Menschen. Schlimm. Dabei bereitet nicht nur der Alkohol Sorgen. Der Großteil der Menschheit trinkt nicht nur über das empfohlene Maß hinaus, sondern isst zu viel, zu falsch, zu fett, zu zuckerhaltig. Das macht krank, das belastet das Gesundheitssystem. Zu einem Verbot von Fett und Zucker hat es bislang nicht gereicht, aber immerhin zu einem mächtig schlechten Gewissen. Das man auch beim Trinken, Rauchen, Kiffen, ja auch beim Autofahren haben sollte.

Der Neokortex hat gesiegt

Deshalb fährt man jetzt Tesla, nuckelt nicht mehr an der guten alten, potenziell tödlichen Tschick, sondern inhaliert Dampf aus Vapes oder raucht "Heets". Soll gesünder sein, redet man sich ein. Andere betreiben Sport, bis sich alles um sie herum in einem Glücksgefühl auflöst. Sie frönen einem Rausch der anderen Art. Der Effekt ist derselbe. Adrenalin, Dopamin, Endorphin … unserem Denkorgan ist es vollkommen gleich, woher die Botenstoffe kommen, die uns in einen Rausch versetzen. Sei es durch Sex, Sport, stundenlanges Tanzen zu harten Technobeats, Fasten oder eben durch Substanzen, die wir uns zuführen und die unser Belohnungssystem aktivieren.

Es ist ein Spiel, das seit Jahrtausenden so geht. Der Mensch versucht auf alle erdenklichen Weisen den Frontallappen des Neokortex, den Sitz der Vernunft, zeitweise auf stumm zu schalten, um die älteren, animalischen Bereiche seines Gehirns von den Fesseln dieser Spaßbremse zu befreien. Mindestens genauso lange werden Rausch, Überschreitung und Verlust von Selbstkontrolle auch verurteilt. Wird ein Unterschied gemacht zwischen dem, was Menschen tun und immer schon getan haben, und dem, wie sie ihr Tun sehen und bewerten. Die Haltung dazu wechselt ständig. Momentan sieht es danach aus, als ob der Neokortex die Oberhand gewonnen hätte. (RONDO exklusiv, Markus Böhm, 8.12.2023)

Gut, um runterzukommen: das Gemälde des britischen Malers David Hockney mit dem Titel
SWITZERLAND ART DAVID HOCKNEY EXHIBITION
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