Penpa Tsering ist der gewählte Präsident der tibetischen Exilregierung im indischen Dharamsala. Der Dalai Lama hat 2011 alle politischen Ämter zurückgelegt.
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Der Dalai Lama ist diesen Sommer 88 geworden. Er muss zwar mittlerweile gestützt werden und benutzt manchmal einen Rollstuhl, erzählt Penpa Tsering. Bis auf sein Knie gehe es ihm aber gut, sagt der Präsident der tibetischen Exilregierung bei einem kurzen Wien-Besuch. Dass die Frage seiner Nachfolge – die Tibeter glauben an die Wiedergeburt des spirituellen Oberhaupts – immer drängender wird, attestiert Tsering jedoch im Gespräch mit dem STANDARD. Tsering erklärt, wie sich die Exilregierung mit Sitz in Indien auf die Eventualität vorbereitet – vor allem mit Peking im Nacken.

STANDARD: Chinas Regierung wird einen eigenen Dalai-Lama-Nachfolger bestimmen. Die tibetische Exilregierung muss damit umgehen. Welche Vorkehrungen trifft sie dafür?

Tsering: Der eigentliche Prozess wird allein vom Dalai Lama entschieden. Wem genau er die Verantwortung überträgt, kollektiv den Oberhäuptern aller religiösen Traditionen oder nur jenem der Gelugpa-Tradition (der religiösen Linie des Dalai Lama, Anm.), hat der Dalai Lama noch nicht preisgegeben. Er hat aber sehr deutlich gemacht, dass er in der freien Welt geboren wird. In den letzten ein bis zwei Jahren hat er zusätzlich betont, dass er, sogar wenn er nach China oder Tibet reisen darf, nicht für immer zurückkehren würde: "Ich will meine indischen Freunden an meiner Bettkante haben, nicht die Chinesen", meint er.

STANDARD: Manche meinen, einen Nachfolger zu Lebzeiten zu benennen wäre die beste Variante. Es gibt Gerüchte, dass das schon passiert ist. Kann das sein?

Tsering: Derzeit ist alles offen. Das einzige Dokument, das es vom Dalai Lama dazu gibt, ist das von 2011. Darin steht, dass er, wenn er 90 Jahre alt wird, Entscheidungen treffen wird. Warten wir also diese eineinhalb Jahre ab. Die Tatsache, dass der Dalai Lama im Moment noch nichts entschieden hat, macht es auch für die Chinesen komplizierter. Denn China kann mit Unvorhersehbarkeit nicht umgehen. Das ist wie bei Donald Trump. Während seiner Präsidentschaft habe ich gelesen, dass die Chinesen nun zum Orakel gehen, um zu sehen, was Trump als Nächstes entscheiden wird. Es ist hier ähnlich. Wenn sich der Dalai Lama für etwas Konkretes entscheidet, dann fällt es Peking viel leichter, den nächsten Schritt zu tun. Sie haben alle Ressourcen und sind sehr gut in Propaganda.

STANDARD: Könnte es auch innerhalb der tibetisch-buddhistischen Gemeinschaft separate Vorschläge geben?

Tsering: Ich kann nichts vorhersagen. Wenn Seine Heiligkeit klare Botschaften hinterlässt, dann sollte es sie nicht geben. Aber die Chinesen sind sehr gut in Desinformation. Wir müssen präventive Maßnahmen ergreifen, wie zum Beispiel die Zustimmung der internationalen buddhistischen Gemeinschaft einzuholen, dass sie sich an die Entscheidung des Dalai Lama halten werden. Japan und Indien haben bereits solche Resolutionen erlassen.

STANDARD: Im Westen gibt es heute viel mehr China-Skepsis als noch vor wenigen Jahren. Spüren Sie das in Ihrem Amt?

Tsering: Ja. Ich bekomme heute viel mehr Aufmerksamkeit. Früher traf ich Vertreter oft in Hotels, heute manchmal sogar in Außenministerien. Die Menschen sind bereit zuzuhören. Wir sagen in Europa: Bitte betrachtet uns nicht nur als Opfer des Kommunismus. Wir wollen nicht nur Mitleid und Hilfsgelder. Sondern betrachtet uns als Partner. Wenn Sie in China positive Veränderungen bewirken wollen, brauchen Sie sowohl interne als auch externe Kräfte. Tibeter, Uiguren, Hongkonger, auch Taiwaner: Wir sind die inneren Kräfte. Wenn Sie nicht wollen, dass sich der Autoritarismus auf der ganzen Welt ausbreitet, dann müssen Sie mit den internen Kräften zusammenarbeiten.

STANDARD: Wird das in Europa gehört?

Tsering: Wenn ich europäische Staats- und Regierungschefs treffe, höre ich immer wieder, dass sie wissen, dass man China nicht mächtiger machen sollte. Im Sinn von: "Wir wissen, dass Russland das unmittelbare Problem ist, aber China ist die langfristige Bedrohung." Doch hat das wirklich Auswirkungen auf die europäische Politik – ohne gemeinsame Außen- und Handelspolitik? China spielt heute dasselbe Spiel, das die europäischen Kolonialisten früher gegen die Kolonien gespielt haben: Divide and rule. Carrot and stick. Sie spielen dasselbe Spiel, doch ihr agiert immer noch ignorant.

STANDARD: Sie wirken enttäuscht von den Europäern.

Tsering: Enttäuscht in dem Sinn, dass Politiker natürlich nach kurzfristigen Gewinnen streben. Aber sie müssen die Einheit der Menschheit erkennen, die wechselseitige Abhängigkeit unserer Existenz auf dieser WeIt. In der Ukraine haben wir gesehen, wie sehr die ganze Welt betroffen ist. Und während der Pandemie waren globale Lieferketten unterbrochen.

STANDARD: Gibt es Kommunikation zwischen Dharamsala, wo der Dalai Lama residiert, und Peking?

Tsering: Ja, ich habe Backchannels, seit Jänner dieses Jahres. Aber es gibt nichts Konkretes, worüber wir sprechen könnten. Die Kanäle dienen eher dazu, den Kontakt wiederherzustellen. Es gibt ein tibetisches Sprichwort: Die Tibeter sind zu hoffnungsvoll und die Chinesen zu misstrauisch. Auch heute sind sie sehr misstrauisch. Aber um das Misstrauen aus dem Weg zu räumen, muss man Vertrauen aufbauen. Mit China ist das sehr schwierig. Denn Peking sagt das eine und macht das andere. China benutzt nun all die Worte, die wir benutzt haben, um die Konflikte mit der Hamas zu lösen: "Dialog", "Verhandlungen", "Fairness". Wo ist das alles ist in Bezug auf Uiguren, Tibeter und Hongkonger?

STANDARD: Sehen Sie eine Chance, dass der Dalai Lama nochmals Tibet besuchen kann?

Tsering: Er will das sehr gerne. Erst im Februar hat er zu mir gesagt, dass sich China ändern wird und dass es für ihn die Möglichkeit geben wird, nach China und Tibet zu reisen. Aber wann kommt die Veränderung? Das ist die Frage. Wir bleiben vorsichtig, weil niemand die Zukunft vorhersagen kann.

STANDARD: Ein Video, in dem der Dalai Lama einem Buben die Zunge entgegenstreckt, hat im Frühjahr für Aufregung gesorgt. Was tun Sie, um für sexuellen Missbrauch in tibetisch-buddhistischen Gemeinden zu sensibilisieren?

Tsering: In jeder Gemeinschaft gibt es Unruhestifter. Ich sage unseren Freunden immer wieder: Nur weil wir Buddhisten sind, glaube nicht, dass deswegen alle Tibeter gute Leute sind. Es gibt auch schlechte Tibeter. Obwohl ich Minister für Religion und Kultur bin, bin ich als Laie nicht an der richtigen Stelle, um monastischen Einrichtungen anzuordnen, was sie zu tun haben. Als religiöse Menschen sollten sie in ihrem Verhalten verantwortungsvoller sein. Wir müssen sie immer wieder daran erinnern, dass es Gesetze gibt, denen sie folgen müssen. Niemand kann sie davor beschützen. (Anna Sawerthal, 4.12.2023)