Die Vorwürfe, die in einem Bericht des Onlinemagazins "+972" formuliert werden, wiegen schwer: Mehrere israelische Armee-Offizielle erzählen dem Medium unter Schutz der Anonymität, wie ein KI-System namens Habsora Ziele für die Angriffe der israelischen Armee in Gaza auswähle – und wie dabei zunehmend auch Zivilisten zum Ziel werden. Demnach würden nun bedeutend schneller als in früheren Konflikten etwa Wohnhäuser mutmaßlicher Hamas-Offiziere zur Zerstörung freigegeben. Dies gelte auch dann, wenn es sich nicht um hohe Mitglieder der Terrororganisation handle, und vor allem auch dann, wenn zahlreiche andere Bewohner der Häuser oder Familienmitglieder der eigentlichen Ziele noch im Haus seien. Hintergrund der Angriffe sei es dabei unter anderem, Schrecken unter der Zivilbevölkerung auszulösen und diese damit gegen die Hamas aufzubringen. Auch das sei, so das Magazin, einer der Gründe, wieso der aktuelle Krieg deutlich mehr zivile Opfer zur Folge gehabt habe als ähnliche Konflikte zuvor.

"Power Targets" heißen im israelischen Armeejargon Ziele, die auch wegen ihrer Signalwirkung ausgewählt werden. Im aktuellen Krieg werde dabei weniger als früher auf die Vermeidung ziviler Opfer geachtet, heißt es in Medienberichten.
AFP/JOHN MACDOUGALL

Übernommen wurde die Berichterstattung auch in mehreren internationalen Medien, vor allem der "Guardian" schrieb früh und ausführlich über das System und die Vorwürfe. Das britische Magazin holte dafür auch viele zusätzliche Stimmen von Fachleuten ein, der Kern der Berichterstattung stammt aber auch dort von "+972" sowie der hebräischsprachigen Schwesterpublikation "Local Call". Wer sind also diese Magazine? Sowohl "+972" als auch "Local Call", das auf Hebräisch den direkt übersetzten Namen "Sikha Mekomit" trägt, bezieht sich im Titel auf Telefonvorwahlen. +972 ist jene Nummer, die sowohl für Anrufe nach Israel als auch in die Palästinensergebiete gewählt werden muss.

Für dort bereits Anwesende ist das dann ein Ortsgespräch. Ausgedrückt werden soll damit, dass sich die Publikationen als gemeinsame israelisch-palästinensische Unternehmungen verstehen. An "+972", das dem linken Flügel der israelischen Politik zugeordnet wird, gab es immer wieder auch Kritik, weil man sich dort in der Vergangenheit unter anderem mit Apartheid-Vorwürfen an Israel gemein gemacht hat. Als unseriös in Sachen faktischer Berichterstattung gilt das Medium bisher aber nicht. Es wird, unter anderem, auch mit einem kleinen Betrag von der deutschen Heinrich-Böll-Stiftung unterstützt.

Das Evangelium weist den Weg

An der aktuellen Berichterstattung ist der Teilaspekt über den Einsatz der KI am einfachsten zu prüfen. Damit nämlich, dass KI-Systeme in Gaza zu Einsatz kommen, hält Israel selber nicht hinter dem Berg. Schon beim letzten größeren Konflikt im Jahr 2021 rühmte sich die israelische Armee im Anschluss, man habe "den ersten KI-Krieg" in der Geschichte geführt, wie der "Guardian" in seinem Bericht in Erinnerung ruft. Dass ein KI-System namens Habsora ("Evangelium" oder "Botschaft") aktuell im Einsatz ist, ist zudem auch einer eigens eingerichteten Homepage der Armee zu entnehmen. Dort heißt es, das System werde genutzt, um "schneller und zielsicherer" Angriffsziele in Gaza zu finden. Bereits vor dem Krieg lobte der ehemalige Armeechef Aviv Kochavi das System, das an einem Tag 100 Ziele gefunden habe, während Menschen 50 in einem Jahr ausgemacht hätten.

Die Armee betont allerdings zudem, dass die Systeme zum Zweck hätten, zivile Schäden zu begrenzen. "Die israelische Armee ist internationalen Gesetzen verpflichtet und verhält sich dem entsprechend, sie greift militärische Ziele und nicht Zivilisten an", hießt es auch in einer Stellungname des Militärs bei "+972". Nicht wird in den Antworten allerdings auf die anderen Vorwürfe eingegangen, die im Text von "+972" erhoben werden. Dort heißt es nämlich unter anderem, dass Menschen zwar alle von der KI ausgewählten Ziele sichten würden, allerdings wenig Zeit dafür hätten, weil ihre Einheiten nach Erfolg bewertet würden – und dass dieser nach Quantität ermessen werde. Wer mehr Ziele freigebe, müsse weniger oft mit Mahnungen rechnen.

Shock and awe

Zudem schreibt die Plattform, ebenfalls unter Berufung auf ihre anonymen Quellen, dass im aktuellen Krieg auffällig viele sogenannte "Power Targets" zum Ziel von Angriffen geworden seien. "Power Targets" sind eine von vier möglichen Zielkategorien der Armee. Es gibt "taktische Ziele" (also etwa militärische Stellungen), "unterirdische Ziele" (also etwa Tunnel), die Familienwohnungen von mutmaßlichen Terroristen – und eben die "Power Targets". Diese sind häufig in größeren Wohnhäusern untergebracht und stehen ebenfalls, etwa als Kommandozentren, der Hamas zur Verfügung.

Ziel ihrer Zerstörung ist aber weniger der eigentliche Schaden für die Hamas, sondern eine Machtdemonstration, mit der die örtliche Bevölkerung von der Hamas entfremdet werden solle. In früheren Kriegen wurde daher vor dem eigentlichen Angriff oft vorgewarnt, damit zwar physische Zerstörungen, nicht aber menschliche Kollateralschäden angerichtet werden. Im aktuellen Krieg ist das laut den Aussagen bei "+972" nicht mehr durchgehend der Fall, es würden deutlich mehr zivile Opfer in Kauf genommen als bei früheren Konflikten – etwa Familienmitglieder oder Nachbarn von Verdächtigen.

Auch dazu gab es eine Antwort des israelischen Militärs. Man habe, "wenn die Umstände es erlaubten", stets "individuelle Warnungen mittels Anrufen bei Personen übermittelt, die sich in der Nähe des Zieles befanden". Dafür habe man schon mehr als 25.000 Gespräche geführt. "Im Allgemeinen arbeitet die IDF (das Militär, Anm.) daran, Schäden für Zivilisten so weit wie möglich zu vermeiden, trotz der Herausforderungen, die dadurch entstehen, dass die Terrororganisation Hamas menschliche Schutzschilde einsetzt". (mesc, 4.12.2023)