Es beginnt schon mit Marie-Antoinette. Dass Bonaparte am 16. Oktober 1793 dem Guillotinieren der aus Österreich stammenden Königsgattin auf dem Pariser Platz der Revolution beigewohnt haben soll, ist eine pure Erfindung. Aber so beginnt der Film "Napoleon" des britischen Starregisseurs Ridley Scott ("Blade Runner", "Thelma & Louise", "Gladiator"). Die französische Presse stürzt sich nicht nur deswegen auf das historisch wenig verbindliche Biopic. Weitere Fehler oder bewusste Unschärfen durchziehen das zweieinhalbstündige Epos: Napoleons Schlacht in Ägypten fand nicht vor den Pyramiden statt. Um Austerlitz, wo Napoleon die zahlenmäßig überlegenen Österreicher und Russen schlug, gibt es keine Berge. Bei Waterloo führte Napoleon seine Soldaten nicht mit gezücktem Säbel in die Schlacht, plagten den erschöpften Generalissimus doch mehrere körperliche Leiden.

Joaquin Phoenix und Vanessa Kirby bei der Premiere des Filmes Napoleon
Joaquin Phoenix und Vanessa Kirby bei der – in Großbritannien abgehaltenen – Premiere des Films "Napoleon", der nun in Frankreich die Wogen hochgehen lässt.
Scott Garfitt/Invision/AP

Was die britische BBC ein "großartiges Re­sü­mee von Napoleons Karriere" und "eine herrlich illustrierte Wikipedia-Seite" nennt, bewirkt in Paris schroffe Kritik: Der wichtigste Napoleon-Kenner Jean Tulard sagt, er würde jungen Schülern davon abraten, den Streifen anzuschauen. Nichts stimme in dem Film – weder die Details noch die große Linie. Napoleons Kriegsglück oder -pech auf seine Beziehung zu Joséphine de Beauharnais zurückzuführen sei widersinnig und unbelegt. Wenn die Tochter reicher Plantagenbesitzer auf der Karibikinsel Martinique einen Einfluss gehabt habe, dann auf die Entscheidung Bonapartes, die (von der Revolution 1794 abgeschaffte) Sklaverei 1802 wieder einzuführen. Dieser Umstand komme aber in dem Film nicht einmal vor.

Womit gesagt sei: Napoleon-Kritik ist in Frankreich durchaus anerkannt. Der selbstgekrönte Kaiser, der per Staatsstreich an die Macht gekommen war und die Errungenschaften der erst zehn Jahre alten Revolution damit verraten hatte, hat ein ambivalentes Erbe hinterlassen. Nicht von ungefähr besuchte seit Valéry Giscard d'Estaing in den Siebzigerjahren kein französischer Präsident – weder François Mitterrand noch Jacques Chirac oder François Hollande – Napoleons Sarkophag im Invalidendom. Mit dieser Tradition brach erst Emmanuel Macron, der seine bonapartistische Ader nicht verhehlen kann.

Wem gehört der Tyrann?

Die Zeitung "Le Monde" fragte 2021 beim 200. Todestag des französischen Kaisers stellvertretend für viele, ob Napoleon "Tyrann oder Held" gewesen sei. Andere Pariser Medien fragten etwas ratlos: "Muss man diesen Anlass feiern?" Die Illustrierte "Paris-Match" bejahte zwar, aber mit einer ironisch unterlegten Begründung: "Napoleon war ein Tyrann – aber es war unser Tyrann!"

Die Frage, wem Napoleon gehört, ist auch in der Debatte über Scotts Film der springende Punkt. Den Franzosen stößt vor allem auf, dass ausgerechnet ein Brite sich an die Nationalfigur von Napoleon I. macht. Ridley Scott (86) beschreibt den kleinen Korsen als infantilen, herumquiekenden Lustmolch. In politisch-historischen Belangen stellt er ihn in einem Interview in eine Reihe mit Alexander dem Großen, Hitler und Stalin. Eine solche Sicht ist in Großbritannien, das Napoleon mit einer Kontinentalsperre zu ruinieren versucht hatte, bis er von den Briten auf Elba ausgesetzt wurde, verbreitet. Im Filmabspann werden denn auch die 320.000 Toten der napoleonischen Schlachten aufgezählt.

Das Despotische sei aber nur seine Seite Napoleons, relativiert Tulard. Gleichzeitig habe der Kaiser in Europa einige Früchte der französischen Revolution wie etwa das Zivilrecht verbreitet. In Frankreich habe er die Zentralbank, die Mittelschulen und den ganzen Staatsaufbau mit den Präfekturen in den Departementen geschaffen.

Unterschwellige Botschaft

In diese Kerbe haut auch die konservative Pariser Zeitung "Le Figaro", die in den vergangenen Jahren durchaus ausgewogene Beiträge zu Napoleons egomanischen Eroberungszügen gebracht hatte. Sie hält dafür, dass Großproduktionen wie Scotts "Napoleon" nicht nur der Volksunterhaltung dienten, sondern unterschwellig politische oder patriotische Zwecke verfolgten. So sei es kein Zufall, dass der Film "Alexander" (der Große) von Oliver Stone kurz nach dem Irakkrieg erschienen sei; obwohl dies der politisch unkorrekte Regisseur in Abrede gestellt habe, vermittle der Unterton des Films letztlich eine Botschaft der "guten" Eroberer aus dem Westen – passend zu den amerikanischen Militäreinsätzen im Mittleren Osten. Und die Regime Chinas oder Russlands seien, so "Le Figaro", auf nationalistische Historienfilme wie etwa "Die Schlacht um Changping" (2008) oder "Die Schlacht am Kulikowo-Feld" (2022) spezialisiert.

Szene aus dem Film.
AP

"Le Figaros" Schlussfolgerung an französische Adressen: "Lancieren wir ebenfalls Superproduktionen über unsere Geschichte, um in den Informations- und Einflusskampagnen mit Filmen, Serien und Videospielen vertreten zu sein." Es muss ja nicht gleich Napoleon sein: Mitte Dezember erscheint weltweit die Fortsetzung des letztjährigen Blockbusters "Die drei Musketiere". Mit internationaler Starbesetzung, aber garantiert mit einem französischen Regisseur. (Stefan Brändle aus Paris, 6.12.2023)