Waldbrand Amazonas
Illegale Brandrodung im Amazonas-Regenwald. Dieser wird teilweise unwiederbringlich zerstört – ein Kippelement, das in den kommenden Jahrzehnten für erhebliche Veränderungen sorgen könnte.
APA/AFP/CARL DE SOUZA

Menschliche Gehirne tun sich schwer damit, winzig kleine und riesengroße Zahlen zu erfassen. Exponentielles Wachstum können wir kaum begreifen, noch komplexere Vorgänge umso schwerer. Daher ist es oft nicht einfach, Forschungsergebnisse zur Klimakrise zu vermitteln: Es geht um facettenreiche Systeme, die wir stark beeinflussen und deren Zusammenhänge nicht immer gleich nachvollziehbar und sichtbar sind. Außerdem setzen wir Prozesse in Gang, deren Folgen sich vielleicht erst in Jahrzehnten oder Jahrhunderten deutlich zeigen – dann aber umso heftiger ausfallen können.

Ein Versuch, Änderungen des Klimasystems greifbar zu machen, sind Kippelemente oder Kipppunkte. Dabei handelt es sich um massive Umwälzungen an einem Punkt im System, etwa die Zerstörung des Amazonas-Regenwalds, der als "grüne Lunge des Planeten" bezeichnet wird, die den CO2-Kreislauf erheblich beeinflussen würde. Je nach Definition gilt der Wandel, um den es bei Kipppunkten geht, als irreversibel. Manche – darunter die Autorinnen und Autoren eines neuen Berichts zu Kipppunkten – sehen sie als exponentiell wachsende, selbstverstärkende Entwicklungen, die auch abrupte und nicht rückgängig machbare Folgen haben können. Der neue "Global Tipping Points Report", mit österreichischer Beteiligung, erschien am Mittwoch.

Der Bericht entstand unter der Führung der Universität Exeter, die sich schon beim Report zum "Global Carbon Budget" hervortat. Finanziell unterstützt wird der Bericht vom Bezos Earth Fund. Dieser Fonds geht auf Amazon-Gründer und Multimilliardär Jeff Bezos zurück, der ihn mit zehn Milliarden US-Dollar ins Leben rief, um Klima- und Naturschutz anzugehen.

Der Bericht soll ähnlich wie die Reporte des Weltklimarats IPCC den Stand des Wissens zum Thema zusammenfassen. Die 200 Expertinnen und Experten machen – im Gegensatz zu einer großen Studie über 16 Kippelemente – mehr als 25 Punkte aus. Dazugekommen ist beispielsweise die Zerstörung von Seegraswiesen, also eher Aspekte mit regionalerem Einfluss. Interessant ist: Dabei handelt es sich nicht nur um negative, sondern auch um positive Kipppunkte, beispielsweise E-Mobilität und der Wandel zu vorrangig pflanzenbasierter Nahrung.

Die Expertinnen und Experten warnen davor, dass das Umschwenken eines negativen Kippelements weitere auslösen könne – mit der Folge, dass ein Dominoeffekt losgetreten wird, der einen immer schnelleren und nicht mehr regulierbaren Wandel auslöst.

Zeitskala: Jahre bis Jahrtausende

Besonders problematisch ist die Lage bei fünf Kippelementen, die schon auf dem derzeitigen Niveau der globalen Erhitzung kippen könnten. Aktuell ist es global um etwa 1,2 Grad wärmer als vor der Industrialisierung, dazu hat vor allem der Ausstoß von Treibhausgasen wie CO2 durch das Verbrennen von Kohle, Erdöl und Erdgas beigetragen. Diese fünf Elemente sind:

Bereits jetzt steht es nicht gut um Warmwasserkorallen. Sie leiden unter zunehmenden Wassertemperaturen und dem steigenden Säuregehalt durch mehr CO2 in den Meeren, das aus der Luft aufgenommen wird. Vielerorts kommt es zu Korallenbleichen und dem Absterben dieser Tiere, die mit eigenen Ökosystemen Lebensraum für zahlreiche Arten bilden. In den Tropen ist es wahrscheinlich, dass diese Systeme kippen und sich damit stark verändern, sagt Jonathan Donges vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), einer der Leitautoren des Berichts. Dies könne sogar innerhalb weniger Jahre geschehen.

Antarktis-Eis
Auch schmelzendes Schelfeis in der Antarktis fällt unter die Kippelemente.
NASA/REUTERS

Ganz anders sieht die Zeitskala der Eisschilde aus: Bei ihnen handelt es sich um die langsamsten Systeme an bekannten Kippelementen, sie verändern sich im Zuge mehrerer Tausend Jahre, wie man aus paläoklimatischen Daten weiß. Doch auch hier könnten in Grönland und der Westantarktis schon schwerwiegende Schmelzprozesse in Gang gesetzt werden, die langfristig einen erheblichen Anstieg des Meeresspiegels verursachen.

Der subpolare Nordatlantikwirbel ist eine Strömung, die schon innerhalb von Jahrzehnten kollabieren könnte, wie Fachleute fürchten. Auch hier wird der Ozean saurer, sommerliche marine Hitzewellen kommen häufiger vor, in manchen Bereichen fehlt es an Sauerstoff. Das hat massive Auswirkungen auf die Meereslebewesen und damit auch auf die Fischerei.

Im aktuellen Bericht weisen die Fachleute darauf hin, dass es kein riesiges Permafrost-Kippelement gibt, dafür sind die Gegebenheiten zu divers. Doch lokal gibt es durchaus hohe Wahrscheinlichkeiten dafür, dass das Auftauen des Permafrostbodens erhebliche Trendwenden in Gang setzt. Das führt nicht nur zum Freiwerden von gespeichertem Kohlenstoff, sondern bringt auch menschliche Infrastruktur wie Straßen und Häuser in die Bredouille.

Massive Konsequenzen

Besonders stark könnten uns zwei Kipppunkte betreffen. Die Destabilisierung der atlantischen Umwälzzirkulation (AMOC) hätte weitreichende Veränderungen in Klima- und Wettermustern zur Folge. In Kombination mit der globalen Erhitzung könnte dies dafür sorgen, dass die Hälfte der Anbauflächen für Weizen und Mais verlorengeht, weil Ernten ausfallen – ein gigantisches Ernährungsproblem. Und das Instabilwerden des antarktischen Eisschildes könnte noch innerhalb dieses Jahrhunderts den Meeresspiegel um zwei Meter nach oben treiben und so "ungefähr 500 Millionen Menschen jährlichen Überflutungsereignissen an den Küsten aussetzen", sagt Donges. Konservative Schätzungen gehen von einem Anstieg um rund 70 Zentimeter bis 2100 aus, wobei dies je nach Region etwas unterschiedlich ausfallen kann.

Hinter dem Konzept der Kippelemente im Klimasystem der Erde steckt Hans Joachim Schellnhuber, der seit Anfang Dezember Direktor des Internationalen Instituts für angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg bei Wien ist. Erst am Montag kritisierte er in der "ZiB 2" Klimakonferenzen wie die laufende COP 28 in Dubai als "Jahrmärkte der Eitelkeit", solange Länder die selbstgesteckten Ziele nicht umsetzen. "Je näher die Krise kommt, desto mehr versucht man, stur zur Seite zu schauen", sagte der Experte. Dabei drohen massive Konsequenzen: Während einige Österreicherinnen und Österreicher laut einer aktuellen Umfrage der Österreichischen Akademie der Wissenschaften der Meinung sind, dass man bei drei Grad globaler Erwärmung noch gut leben könne, fand Schellnhuber für eine solch massive Veränderung drastische Worte und bezeichnete sie als "das Ende der Zivilisation".

Wenngleich Schellnhuber soziale Kipppunkte vermutlich nicht von Anfang an mitgedacht hat, haben auch diese ihren Weg in den Bericht gefunden. Abgedeckt sind dabei zunehmende Radikalisierung und Polarisierung sowie vermehrte Probleme der mentalen Gesundheit. "Diese Kipppunkte hätten das Potenzial, zu gewaltsamen Konflikten, Massenmigration und finanzieller Instabilität zu eskalieren", sagt Donges.

Positiver Wandel

Hier kann man schwerer das Maß der Irreversibilität anlegen, sagt Berichtautorin Caroline Zimm, die am IIASA in Niederösterreich den sozialen Wandel erforscht. Bei sozialen Elementen gehe es um andere Zeithorizonte als in den Erdsystemwissenschaften – wie die Gesellschaft in hundert Jahren aussehen könnte, dafür fehle die Glaskugel. "Aber wir sagen, dass es ein Kippelement ist, wenn man einen exponentiellen Wandel sieht."

Im Report wird aber auch auf positive Kipppunkte hingewiesen, die sich ebenfalls gegenseitig verstärken können. Immerhin kam es zuletzt zu einem exponentiellen Anstieg bei erneuerbarer Elektrizitätsgewinnung und einem vergleichbaren Schub bei E-Autos und anderen strombetriebenen Fahrzeugen. Werden hier Innovationsfortschritte gemacht, beispielsweise bessere E-Auto-Akkus entwickelt, könne das die Möglichkeiten der Speicherung von Strom aus erneuerbaren Energien verbessern oder umgekehrt.

Rauchverbot-Schild an einem Spielplatz
Auch Rauchverbote sind ein Beispiel für positive Kipppunkte im sozialen Wandel, wie sie vor 50 Jahren wohl nicht absehbar waren.
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Schon in der Vergangenheit gab es Beispiele für positive soziale Kippelemente, sagt Zimm: "Man nehme das Beispiel der Abschaffung der Sklaverei oder auch Frauenwahlrechte." Auch Nichtraucherschutz fiele in diese Kategorie. Diese Veränderungen hätten sich etabliert und würden jetzt als Norm angesehen. "Die Frage ist: Wie schaut unser Alltag in 50 Jahren aus?" Hier besteht laut Zimm die Hoffnung, dass Natur- und Klimaschutz zu neuen sozialen Normen werden.

Es gibt viele Expertinnen und Experten, die im Hinblick auf Kipppunkte im Klimasystem sehr vorsichtig formulieren. Zu groß seien die Unsicherheiten, mit denen diese Elemente behaftet sind – auch wenn man prinzipiell wisse, dass es sie gibt. Im Hinblick auf den Report äußert sich Gerrit Lohmann vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven kritisch: Er hält den Bericht für einen begrüßenswerten Versuch, ein kohärentes Bild der Kipppunkte zu zeichnen. Doch im Detail hätte man präziser sein können, gerade beim Hervorheben von Unsicherheiten in den dynamischen Systemen. Es brauche mehr robuste Daten und Modelle.

Kippelemente als Metapher

Hier überschneiden sich die Bestrebungen dieser Fachleute mit jenen der Autorinnen und Autoren des Kipppunkt-Berichts: Sie fordern allesamt, dass Kippelemente gründlicher erforscht werden müssen, um sie und ihre Auswirkungen besser zu verstehen. Gefordert wird auch ein Sonderbericht des IPCC über globale Kipppunkte. Dies dürfe die wichtigen Klimaschutzmaßnahmen aber nicht verzögern oder verringern. Dafür steht schon zu lange fest: "Rasche Veränderungen in der Natur und in der Gesellschaft sind im Gange, und es werden noch mehr kommen. Wenn wir unseren Lenkungsansatz nicht überdenken, könnten diese Veränderungen Gesellschaften überfordern, da die natürliche Welt rasch aus den Fugen gerät", heißt es in der Zusammenfassung des Berichts.

Lohmann hält fest, dass er Kipppunkte für ein sehr gut geeignetes Mittel zur Kommunikation von Wandel hält. "Kippelemente sind für mich mehr als Metapher gemeint", sagt der Physiker. Sie können die komplexen Systeme nicht vollständig abbilden und in einen Rahmen mit festen Grenzwerten packen. Stattdessen gehe es um Abschätzungen und Wahrscheinlichkeiten. Hinzu kommt: "Man muss bei der Kommunikation von Kipppunkten höllisch aufpassen, dass nicht der Eindruck entsteht, wir befänden uns auf dem sicheren Weg, wenn wir unter zwei Grad bleiben." Hierfür eigne sich dieses Konzept nicht. "Wir sind eigentlich schon mitten im Klimawandel, und die Extremereignisse nehmen zu, obwohl wir noch nicht so gravierende Änderungen wie den Verlust des antarktischen Inlandeises haben."

Extremereignisse fallen nicht in die Kategorie der Kippelemente. Doch auch die negativen Kipppunkte im Report weisen mit besonderer Dringlichkeit auf die Klimakrise hin, die "weitaus schwerwiegender ist, als gemeinhin angenommen wird, und ein Ausmaß erreicht (hat), mit dem die Menschheit noch nie zuvor konfrontiert war", wird im Bericht festgehalten. Die Industrie der Gegenwart und Vergangenheit sorgt für Folgen, die wir uns nur sehr schwer ausmalen können. (Julia Sica, 6.12.2023)