Hausbesuch, Homestory, Boltenstern
Raoul, Marie und Josefine Boltenstern in der frisch renovierten Villa, die in den 1930er-Jahren vom damaligen Stararchitekt Erich Boltenstern gebaut wurde.
Mafalda Rakoš

Es sind erstaunlich wenige Schritte, bis der Verkehrslärm des Hietzinger Kais verstummt. Die schmale Gasse, in der die Boltensterns wohnen, ist typisch für dieses Viertel. Alte Villen, dazwischen Neubauten und viele parkende Autos. Kaum ein Mensch lässt sich blicken. Kein Geschäft weit und breit.

Die gesuchte Villa ist weißgetüncht, im Vorgarten stehen Bäume, deren Laub längst zu Boden gefallen ist. Nach dem "Dingdong" der Türglocke dauert es ein Weilchen, bis die alte Haustür geöffnet wird. Über eine steinerne Treppe geht es nach links in die weitläufige, offene Küche des Gebäudes. Die Boltensterns nennen die Villa mit ihren 380 Quadratmetern lieber Haus. Die Boltensterns, das sind die Schmuckdesignerin Marie Boltenstern, ihre vier Monate alte Tochter Josefine und Ehemann Raoul, derzeit in Karenz. Zuvor war er in der Papierindustrie tätig. Seit einem Jahr wohnen Marie und Raoul in dem umfangreich sanierten Gebäude.

Erbaut wurde das Haus von Maries Großvater Erich Boltenstern in den 1930ern. Vom Reißbrett des Architekten stammen unter anderem der Wiener Ringturm und das Kahlenbergrestaurant. Aus dem Wettbewerb für den Wiederaufbau der Staatsoper ging er 1947 als Sieger hervor, ferner plante er mit Kurt Schauss das Gartenbauhochhaus am Parkring und leitete die Meisterschule für Architektur an der Akademie der bildenden Künste. Er gilt nach 1945 als einer der meistbeschäftigten Planer und vertrat das sogenannte Konzept einer gemäßigten Moderne. Eine Ausstellung zu seinem Werk trug den Titel Moderat modern.

Hausbesuch, Homestory, Boltenstern
Vom Wohnzimmer aus, biegt man nach links in die Küche des Hauses ab. Von hier geht es auch in einen kleinen Salon.
Mafalda Rakoš

Auf diese Art würde Enkelin Marie auch den Stil ihres Zuhauses bezeichnen, ebenso den gestalterischen Zugang zum Umbau, der noch immer nicht zu 100 Prozent abgeschlossen ist. Das verrät zum Beispiel die eine oder andere nackige Glühbirne, die an manchen Stellen von der Decke baumelt.

Architektur in kleinster Form

"Dieses Gebäude war immer ein Familienhaus", sagt Marie Boltenstern, die hier aufgewachsen ist, ehe sie 20-jährig für zehn Jahre ins Ausland ging, um Architektur zu studieren. Stationen waren Paris, Berlin und London, wo sie an der Architectural Association auf die Idee kam, 3D- und andere Technologien aus der Architektur auf Schmuckgestaltung umzulegen. Auch darum nennt sich die Designerin gerne "Schmuckarchitektin". Über ihre Objekte sagt sie, Schmuck sei Architektur in ihrer kleinsten Form.

"Es handelt sich um ein offenes Haus, das zirkuliert", erklären die beiden Jungeltern. Gemeint sind die fließenden Übergänge. Räume verschränken sich ineinander und strahlen große Offenheit aus. "Durchschau" nennt es Raoul Boltenstern. Und die reicht von einem Raum in den anderen bis hinaus auf den verwilderten Garten, der einer Ruderalfläche gleicht und als Gegenstück zum schnieken Innenraum wirkt.

Hausbesuch, Homestory, Boltenstern
Aus dem Badezimmer fällt der Blick durch ein Fenster ins Schlafgemach, weiter auf einen kleinen Balkon und den dahinterliegenden Garten.
Mafalda Rakoš

"Wir fühlen uns hier extrem wohl und sind auch sehr dankbar. Das alles hier entspricht einer Lebensoase. Man könnte es auch Anker nennen", sagt Marie Boltenstern und erzählt: "Auch deshalb sind wir am liebsten daheim. Hätte mir das vor drei Jahren jemand gesagt, hätte ich dieser Person den Vogel gezeigt. 'Wir sind hier angekommen', trifft es auch gut."

Wer sich auch besonders wohlfühlen dürfte, ist der rechte Winkel. Kurven und Rundungen sind hier Mangelware, sieht man von zwei Bullaugen als Küchenfenstern ab, besonders charmante und auffällige Details des Gebäudes. Als architektonisches Augenzwinkern könnte man die Fenster auch verstehen.

Marie Boltenstern – bereits ihr Vater Sven machte sich als Goldschmied und Bildhauer einen Namen – schätzt an ihrem Zuhause neben der Helligkeit die Funktionalität. Es wirkt sehr aufgeräumt und frisch. Kramuri und Schnickschnack haben hier nichts verloren, geradezu Hausverbot. "Wir sehen uns nicht als Monks, außerdem werden Josefine und mögliche Geschwister irgendwann schon dafür sorgen, dass es hier eines Tages anders aussehen wird", sagt Raoul Boltenstern, der darauf hinweist, dass sie ganz bewusst wenig Stauraum geschaffen haben. "Auch damit wollen wir verhindern, zu viele Dinge anzuhäufen."

Manche würden sagen, hier gehe es ziemlich bürgerlich zu, andere frisst der Neid ob der Tatsache, dass hier jedes Ding seinen Platz zum Atmen hat. Und davon nicht zu wenig. Die Interieur-Philosophie an diesem Ort entspricht dem Gegenteil eines Setzkastens. Und zwar vom Scheitel bis zur Sohle.

Hausbesuch, Homestory, Boltenstern
Über mehrere Stockwerke führt die alte, blau gestrichene, knarrende Holzstiege, die die sehr rechtwinklige Architektur zusätzlich unterstreicht.
Mafalda Rakoš

Im Souterrain liegt neben dem Studio, in dem unter anderem Schmuckprototypen Boltensterns entstehen und bis zu fünf Mitarbeiterinnen in Sachen Marketing und Design beschäftigt sind, eine Einliegerwohnung. Im Erdgeschoß finden sich besagte Küche mit Arbeitsplatten aus österreichischem Marmor, ein sehr grüner Schrank sowie ein geräumiger Tisch, beides aus der Feder des Großvaters. Küche und Wohnzimmer samt offenem Kamin münden ineinander. Nicht zu vergessen die große Terrasse, die den Wohnbereich in der warmen Jahreszeit bis ins Freie weiterführt.

Anschließend an dieses salonartige Raumensemble liegt ein Zimmer, in dem ein Flügel nur wenig Platz für anderes lässt. Dabei ist Raumnot in dieser Bleibe sonst definitv ein Fremdwort. Im ersten Stock befinden sich das Schlafzimmer mit einem großen Fenster, durch das man in ein Badezimmer blickt, das an ein neu eröffnetes Spa erinnert und mit seinen dunklen Fliesen fast monolithisch wirkt.

Spießerecke

Ferner gibt’s hier ein Kinderzimmer, das noch im Werden ist, sowie eine Art Wäschekammer plus zusätzliches Bad. Noch einen Stock höher wurden ein Gästebereich sowie ein Arbeitszimmer untergebracht. Man könnte schon Orientierungsschwierigkeiten bekommen. Oder sagen wir, der Ort taugt zum Versteckenspielen.

Hausbesuch, Homestory, Boltenstern
Diesen Raum nennen die Bewohner Spießerecke, der den Charakter eines Wintergartens aufweist.
Mafalda Rakoš

Auf allen Stockwerken entdeckt man Details, die ihren Charme meist erst auf den zweiten Blick preisgeben. Dazu zählen die rechtwinkligen Lichtfugen an den Zimmerdecken oder eine faltbare Tür, durch die man vom Wohnzimmer aus in einen erkerartigen Minisalon gelangt, den das Paar "Spießerecke" nennt. Auch der Übergang der Fußböden von Stein zu Parkett, große, freiliegende Stahlträger oder Schiebetüren mit Kassettenfenstern machen dieses Zuhause aus. Und Bilder, viele Bilder. Auf keinen Fall fehlen darf bei dieser Aufzählung die blitzblaue, knarrende Holztreppe, die bis unter das Dach des Hauses führt, wo heute unter anderem ein Arbeitszimmer mit Bibliothek liegt.

Es sind einige wunderbare Spuren zu finden, die auf die großväterliche Handschrift hinweisen. Was der Opa wohl zum Umbau gesagt hätte, möchte man zum Schluss des Hausbesuchs wissen. "Ich hoffe, er würde sich freuen, und man kann den Charakter seiner Architektur spüren", sagt die Enkelin. Nun, moderat modern ist der Umbau auf jeden Fall ausgefallen. (RONDO, Michael Hausenblas, 4.1.2024)

Boltenstern, Villa, Hietzing, Homestory
Die Hinteransicht der Villa in Hietzing.
Mafalda Rakoš
Boltenstern, Villa, Hietzing, Homestory
Zu sehen ist das Wohnzimmer, von dem man in die Küche abbiegt.
Mafalda Rakoš
Boltenstern, Villa, Hietzing, Homestory
Diesen Raum nennen seine Bewohner die Spießerecke, nicht weit davon liegt ein Zimmer, in dem sich ein Flügel breitmacht.
Mafalda Rakoš
Boltenstern, Villa, Hietzing, Homestory
Auch der Esstisch und der Schrank stammen aus der Feder des einstigen Stararchitekten Erich Boltenstern.
Mafalda Rakoš
Boltenstern, Villa, Hietzing, Homestory
Die Bullaugen in der Küche sind ein charmantes Detail und etwas vom wenigen Runden, das sich blicken lässt.
Mafalda Rakoš
Boltenstern, Villa, Hietzing, Homestory
Die Küchenarbeitsplatte ist aus österreichischem Marmor gefertigt.
Mafalda Rakoš
Boltenstern, Villa, Hietzing, Homestory
Jede Menge Ecken und Kanten gibt es auch im Badezimmer.
Mafalda Rakoš
Boltenstern, Villa, Hietzing, Homestory
Aus dem Badezimmer fällt der Blick durch ein Fenster ins Schlafgemach, weiter auf einen kleinen Balkon mit dahinterliegendem Garten, der gestaltungstechnisch noch etwas im Dornröschenschlaf liegt.
Mafalda Rakoš
Boltenstern, Villa, Hietzing, Homestory
Über mehrere Stockwerke führt die alte, blau gestrichene, knarrende Holzstiege. Auch sie unterstreicht die rechtwinklige Atmosphäre in der alten Villa, die ihre Bewohner als "Familienhaus" bezeichnen.
Mafalda Rakoš