Agnes Chow im Videocall
Die Hongkongerin Agnes Chow sprach per Videocall aus Toronto mit Reuters.
REUTERS/REUTERS TV

Eigentlich hätte Agnes Chow Ende Dezember nach Hongkong zurückkehren sollen. So sahen es ihre Bewährungsauflagen vor. Doch umso näher der Termin rückte, umso unsicherer wurde sie. Das Flugticket war schon gebucht, doch am Ende entschied sich die 27-Jährige, in Kanada zu bleiben. "Ich werde vermutlich für den Rest meines Lebens nicht zurückkehren", schrieb die bekannte Hongkonger Demokratieaktivistin am Sonntag auf Instagram.

Chow ist eines der bekanntesten Gesichter der Demokratieproteste in Hongkong von 2019 und 2020. Sie war bereits vor rund drei Monaten nach Kanada gereist, um dort zu studieren. Die chinesischen Behörden hatten ihr im Sommer eine Ausreisegenehmigung erteilt, um ein Studium in Toronto aufzunehmen.

Chow war zuvor zehn Monate im Hongkonger Gefängnis, im Juni 2021 kam sie auf Bewährung frei. Ihre Anklage lautete auf illegale Versammlung im Zuge der Proteste. Außerdem wird ihr vorgeworfen, sich mit ausländischen Kräften verschworen zu haben. Chow ist eine von jenen Hongkongern, die an vorderster Front die Demokratieproteste anführten. Gemeinsam mit den bekannten Jungaktivisten Joshua Wong und Nathan Law hatte sie die mittlerweile verbotene Demokratiepartei Demosisto gegründet. Mit dem "National Security Law" beendete Peking im Sommer 2020 eine monatelange Welle an Massenprotesten in der chinesischen Sonderverwaltungszone. Nathan Law lebt seit mehreren Monaten im Exil in Großbritannien. Joshua Wong ist inhaftiert, genauso wie Dutzende andere, die in Hongkonger Gefängnissen auf Verfahren warten beziehungsweise bereits erteilte Haftstrafen absitzen. Insgesamt wurden mindestens 280 Personen inhaftiert, viele von ihnen sind sehr jung.

Dass sich Agnes Chow zum ersten Mal seit ihrer Enthaftung vor eineinhalb Jahren zu Wort meldet – und das aus Kanada und nicht Hongkong –, wirft ein Schlaglicht auf die Situation in Hongkong, wo auch mehrere Jahre nach Einführung des Nationalen Sicherheitsgesetzes die Behörden mit Härte gegen Dissens vorgehen. Die Behörden betonen, damit Stabilität in Hongkong wiederhergestellt zu haben. International gilt das Gesetz aber als höchst umstritten, es werde dazu verwendet, politisch Andersdenkende zu unterdrücken.

Die Finanzmetropole mit ihrer britischen Kolonialvergangenheit galt bis dahin als Ort der Freiheit innerhalb des autoritären China. "Ein Land, zwei Systeme" war das Credo, unter dem die unterschiedlichen administrativen Zugänge von Peking und von Hongkong ein Auskommen fanden. Mit dem neuen Sicherheitsgesetz war das de facto zu Ende. Heute müssen Demokratiebefürworter, Kritiker und Journalisten genauso wie im restlichen Festlandchina vorsichtig sein, nicht die vielen roten Linien der Behörden zu überschreiten.

Verschwundene Journalisten

So wird zum Beispiel die Liste an Journalisten und Journalistinnen, die seit den Protesten in Hongkong verschwunden sind, immer länger. Es ist ein Thema, über das nicht viel gesprochen oder geschrieben wird – denn die Familien der Betroffenen hoffen, ihre Angehörigen zu schützen, indem man den Ball flach hält. Mediale Aufmerksamkeit würde den Verschwundenen mehr schaden als nützen, so die Annahme. Daher gibt es nur wenige Fälle, die auch öffentlich bekannt sind.

Einer davon ist der einer leitenden Reporterin der Hongkonger "South China Morning Post" ("SCMP"), die seit einem Monat unerreichbar ist. Ende Oktober war sie zum Sicherheitsforum Xiangshan nach Peking gereist, seither ist sie verschwunden. Ende vergangenen Woche hat die Hong Kong Journalists Association schließlich ein Statement veröffentlicht, in dem die Gruppe ihre "tiefe Sorge" um die Sicherheit der Journalistin ausdrückt.

Die Zeitung reagierte daraufhin mit der Nachricht, dass die Mitarbeiterin "persönlichen Urlaub" genommen habe. Ihre Familie habe angegeben, dass sie in Peking sei und dort "private Dinge" regeln müsse. Man solle ihre Privatsphäre respektieren. "Die Sicherheit unserer Journalisten bei der Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit ist von größter Bedeutung", gab die Zeitung außerdem an. Man lasse der Mitarbeiterin jede notwendige Hilfe zukommen.

Im Jahr 2022 war bereits ein anderer "SCMP"-Journalist für neun Monate in China verschwunden, wie Al-Jazeera berichtet. Insgesamt sind es aber dutzende Personen, die betroffen sind, erzählen informierte Journalisten und Journalistinnen in Taiwan, wo man traditionell enge Verbindungen nach Hongkong hat. Mittlerweile zögert man aber auch dort, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen auf Dienstreisen nach Festlandchina, aber auch nach Hongkong zu schicken. Die Risiken seien einfach zu groß, erzählen Redakteure eines Medienhauses in Taipeh.

Pass konfisziert, ständige Beobachtung

Chow gab in ihrem Instagram-Post Einblick in ihren Alltag der letzten Monate in Hongkong: So blieb nach ihrer Enthaftung im Sommer 2021 ihr Pass konfisziert. Sie stand außerdem ständig unter Beobachtung. Sie habe ständig in Angst gelebt, wieder inhaftiert zu werden, und musste sich ruhig verhalten. Das habe bei ihr Depressionen und Panikattacken ausgelöst; es wurde bei ihr eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert, schreibt sie.

Im Sommer gestatteten ihr die Hongkonger Behörden schließlich die Ausreise zum Studium nach Kanada. Im Gegenzug musste sie allerdings auf einen "Bildungstrip" in die Festlandstadt Shenzhen reisen, wo sie unter anderem an einer "patriotischen Messe" teilnehmen musste, in Begleitung von fünf Polizisten. Außerdem musste sie Dokumente unterzeichnen, in denen sie sich bei den Behörden bedankte und Reue über ihre bisherigen politischen Aktivitäten zum Ausdruck bringen musste.

Hongkongs Regierungschef John Lee bestätigte Chows Angaben am Dienstag nicht. Er verurteilte Chows Flucht als "komplette Schande" und als "eklatante Missachtung der polizeilichen Kautionsbedingungen". Der Schritt zeige, "dass die Flüchtige eine Lügnerin, eine Heuchlerin ist", so Lee. Die Polizei werde ihr Bestes tun, um sie zu verfolgen und zu inhaftieren.

Dass die Hongkonger Behörden weiter hart gegen jede Form von Dissens vorgehen, zeigt ein weiterer Fall im Vorfeld der am kommenden Sonntag stattfindenden Bezirkswahlen: Ein Mann hatte Ende Oktober auf sozialen Plattformen zum Boykott der Wahlen aufgerufen, diese seien "Zeitverschwendung". Über ihn wurde ein Haftbefehl verhängt. Gegen einen weiteren, der dessen Post teilte, läuft derzeit ein Prozess.

"Ich hoffe, dass meine Geschichte alle in der Welt daran erinnern kann, dass es in Hongkong immer noch viele, viele, viele Menschen gibt, die ins Gefängnis kommen, unterdrückt werden und nicht einmal ein Wort sagen können", erklärte Chow gegenüber Reuters Anfang dieser Woche. In Zukunft möchte sie "physisch und mental frei sein", gab sie an. (Anna Sawerthal, 5.12.2023)