Das Bakhshali-Manuskript, das 1881 im heutigen Pakistan gefunden wurde. Hier wurde die Null als Zahl erstmals erwähnt.
Das Bakhshali-Manuskript, das 1881 im heutigen Pakistan gefunden wurde. Hier wurde die Null als Zahl erstmals erwähnt.
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Nicht vieles auf der Welt darf den Anspruch stellen, trivial zu sein. Bei genauerer Betrachtung stellt sich oft der einfachste Sachverhalt als unerwartet tiefgründig heraus. Ausgerechnet im mathematischen Fachjargon ist das Wort "trivial" sehr verbreitet. Es bezeichnet Operationen, bei denen nichts passiert. So ist etwa ein triviales Zahlensystem bekannt, das nur aus einem Element besteht: der Null. Egal, wie man Nullen addiert oder miteinander multipliziert, ein Ausbrechen ist unmöglich, es kommt immer wieder Null heraus.

Wer so einen Entwurf sonderbar findet, mag eine Ahnung davon bekommen, wie sich Menschen des Mittelalters in Europa fühlten, als sie erstmals mit der Zahl Null in Kontakt kamen. Der Mathematiker Leonardo von Pisa, besser bekannt als Fibonacci, hatte sie von Studien in Nordafrika mitgebracht. Die neuen arabischen Ziffern und die mit ihnen importierte Null befremdeten die Behörden des 13. Jahrhunderts in Florenz derart, dass sie beides kurzerhand verboten. Das Rechnen mit der Null wurde zur Geheimwissenschaft, eine Tatsache, die sich heute noch im Wort "Chiffre" widerspiegelt, das, ebenso wie das Wort "Ziffer", seinen Ursprung im arabischen Wort für Null hat.

Aufhalten ließ sich der Siegeszug der Null dennoch nicht. Die sonderbare Zahl wurde zu einer unentbehrlichen Grundlage der heutigen Mathematik.

Antike ohne Null

Der Weg verlief allerdings alles andere als gerade. Ein Zeichen für die Null gab es schon bei den Hochkulturen Mesopotamiens, wo sich mit der Erfindung der Schrift auch das Schreiben von Zahlen etablierte. Es hatte den Zweck, eine Leerstelle zwischen zwei Ziffern zu markieren. Das Symbol bestand noch nicht aus dem heute bekannten Kreis, sondern aus zwei parallel in weichen Ton gedrückten Strichen.

Auch andere Kulturen entwickelten unabhängig davon ein ähnliches Zeichen, etwa die Maya in Mittelamerika, wo ein Symbol für die Null in Kalendern verwendet wurde. Eine tiefere Bedeutung maß man dem Zeichen nicht bei. Es wurde nicht als vollwertige Zahl verstanden, mit der Rechenoperationen möglich waren. Als Gelehrte des antiken Griechenlands frühe Rechentechniken zu ihrer ersten Hochblüte führten, spielte die Null keine Rolle. Auch das antike Rom mit seinen noch heute für Uhren beliebten Zahlzeichen machte keinen Gebrauch von der Null.

Das bei den Babyloniern um 300 vor Christus verwendete Zeichen hatte bereits eine ähnliche Funktion wie die Null in unserem Dezimalsystem. Im babylonischen Zahlensystem ist die Stelle, an der eine Ziffer steht, von Bedeutung für deren tatsächlichen Zahlenwert. Das Verrücken einer Zahl um eine Position erhöht ihren Wert um das Sechzigfache. Zum Anzeigen der Leerstellen etablierte sich ein Zeichen, das zum Urahn der Null wurde.

Philosophie des Nichts

Den nächsten Schritt machte der indische Astronom Brahmagupta. Neben seiner astronomischen Tätigkeit, er leitete etwa ein Observatorium zur Sternbeobachtung in Ujjain, das der Maharadscha Jai Singh erbauen hatte lassen, beschäftigte er sich auch mit Mathematik. Im 7. Jahrhundert begann er mit der Null zu rechnen und zeigte, dass sich "śūnya", wie er sie nannte, in vielen Fällen als normale Zahl verwenden lässt. Null zu einer beliebigen Zahl addiert ergibt etwa die Ausgangszahl. Das indische Zahlensystem war bereits ein Dezimalsystem, wie wir es heute kennen.

Ein Observatorium dieser Bauart leitete Brahmagupta, wenn er sich nicht gerade mit Mathematik beschäftigte.
Ein Observatorium dieser Bauart leitete Brahmagupta, wenn er sich nicht gerade mit Mathematik beschäftigte.
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Wie groß die Bedeutung indischer Philosophie dabei war, in der die Leere ein bekanntes Konzept ist, ist nicht unumstritten. Das heutige offizielle Indien betont die Bedeutung solcher Traditionen stark, auch wenn es um Wissenschaft geht. Das zeigt etwa das Streichen der Lehre von der Evolution aus dem indischen Lehrplan.

Beim Vergleich mit westlicher Philosophie ist eines auffällig: Aristoteles, der bis ins europäische Mittelalter hinein enormen Einfluss auf die abendländische Geisteswelt hatte, lehnte das Konzept der Leere ab und trug damit womöglich dazu bei, dass die Null hierzulande nicht früher entdeckt wurde.

In der arabischen Welt etablierte sich die Null ab dem 8. Jahrhundert und wurde fixer Bestandteil eines Zahlensystems, das in der Handhabung äußerst praktisch war. Rechenoperationen wurden im Vergleich zum römischen System, das für große Zahlen immer neue Zeichen einführt, extrem vereinfacht. Dort erhielt die Null, in Indien noch als Punkt geschrieben, schließlich ihre heute bekannte Form. Der persische Mathematiker Abu Dschaʿfar Muhammad ibn Musa al-Chwārizmī verwendete einen kleinen Ring und nutzte die Null sehr gewinnbringend für seine Algebra. Er selbst wurde aufgrund seiner einfachen Rechenanleitungen zum Namensgeber des Algorithmus.

Am Rande der Legalität

Die Verwirrung, die mit einer Zahl ohne Inhalt einhergeht, wurde also durch praktische Vorteile aufgewogen. Das verstanden auch europäische Händler so, als sie mit dem arabischen Zahlensystem in Kontakt kamen. Der bereits erwähnte Fibonacci, der vor allem durch die nach ihm benannte Zahlenreihe bekannt ist, hatte sie in Algerien studiert und zeigte, wie sich damit vortrefflich rechnen lässt. Auch ohne den damals üblichen Abakus, eine Rechenmaschine, die dem teils heute noch auf heimischen Wirtshaustischen gebräuchlichen Zählgerät für Kartenspiele ähnelt.

Doch das neue System weckte Misstrauen. Die bislang üblichen römischen Ziffern galten als fälschungssicherer, ließ sich doch bei arabischen Ziffern einfach hinter einer Zahl eine Null anfügen und so ihr Wert verzehnfachen. 1299 verbot man sie in Verträgen und offiziellen Dokumenten. Von der Universität Padua ist fünfzig Jahre später eine Mitteilung bekannt, laut der die Preise zum Verkauf stehender Bücher nicht in arabischen Ziffern zu schreiben seien.

Leonardo von Pisa, auch bekannt als Fibonacci
Leonardo von Pisa, auch bekannt als Fibonacci, lernte die arabischen Ziffern bei seinen Studien in Nordafrika kennen.
gemeinfrei

Religiöse Vorbehalte gegenüber der Null waren dabei eher nicht entscheidend. Zwar wurde Konzept des Nichts in der katholischen Kirche, die in Naturwissenschaften Aristoteles folgte, kritisch gesehen. Doch die Verbote betrafen arabische Ziffern und ihre als gefährlich wahrgenommene Flexibilität im Allgemeinen. Dass solche Bedenken nicht ganz von der Hand zu weisen sind, lernte vor einigen Jahren auch ein österreichischer Finanzminister, der den Spott der Nation auf sich zog, als er in seinem Budget gleich sechs Nullen vergaß.

Auch in anderen Ländern gibt es Bedenken: In einer Studie 2019 sprach sich eine Mehrheit der Befragten in den USA gegen arabische Ziffern im Schulunterricht aus. Verantwortlich für dieses bizarre Ergebnis war natürlich ein Missverständnis, das zu erzeugen der Zweck der Studie gewesen war.

Eine Seite aus dem Bakhshali-Manuskript, in dem die Null erstmals erwähnt wurde.
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Fund in einem Acker

Wo sich die älteste Darstellung der Null als Zahl findet, ist nach wie vor Gegenstand von Forschungen. Lange Zeit galt eine Darstellung auf einer Tempelwand als ältestes Zeugnis der Null. Doch 2017 wurde ein 1881 im heutigen Pakistan gefundenes Manuskript neu datiert. Die auf Birkenrinde geschriebene Schriftensammlung, die an Händler der Seidenstraße gerichtet gewesen sein könnte, ist nach ihrem Fundort als Bakhshali-Manuskript bekannt und erwies sich in den Analysen als 500 Jahre älter als bislang geglaubt. In dem zwischen dem zweiten und dem vierten Jahrhundert verfassten Text kommt erstmals der in Indien als Zeichen für die Null verwendete Punkt vor. Verschiedene Fachleute äußerten allerdings Zweifel an dem Ergebnis der Datierung.

Brahmaguptas furchtlose Behandlung der neuen Zahl war dabei kein ungetrübter Erfolg. Zwar hatte er insofern recht, als Addition, Subtraktion und Multiplikation mit der Null problemlos funktionieren. Brahmagupta hielt allerdings unter Umständen auch eine Division für möglich. "Dividiert man irgendeine Zahl durch das Nichts, so wird Unendlichkeit", schreibt er im 7. Jahrhundert und irrt damit. Zwar kam die Mathematik in Form der Infinitesimalrechnung dem Dividieren durch Null sehr (um nicht zu sagen, beliebig) nahe, schlichtes Dividieren durch null bleibt aber sinnlos.

Die Null ist heute jedenfalls aus der Mathematik nicht mehr wegzudenken, auch wenn intuitiv weiterhin schwer fassbar ist, worum es sich dabei eigentlich handelt. Vielleicht hilft es, sich vor Augen zu halten, dass es die Null eigentlich nicht gibt. Verschiedenste mathematische Systeme besitzen ihr eigenes triviales Element mit ähnlichen Eigenschaften.

In Indien kennt man keine Berührungsängste mit der Null, wie dieses Straßenschild zeigt.
In Indien kennt man keine Berührungsängste mit der Null, wie dieses Straßenschild zeigt.
Gemeinfrei

Die Null in der DNA

Besondere Bedeutung hat das Pendant zur Null in der sogenannten Mengenlehre. Bei Letzterer handelt es sich mehr oder weniger um das, was man sich angesichts der Bezeichnung darunter vorstellt: eine Lehre, die erklärt, wie mit Mengen von irgendwelchen Dingen umzugehen ist. Im Grunde genommen sind die Regeln sehr einfach, Mengen können vereinigt werden, oder man kann sich ansehen, ob einzelne Elemente übereinstimmen.

Doch die Mengenlehre steht in der Mathematik an einer außergewöhnlichen Stelle: Jeder nur denkbare mathematische Sachverhalt lässt sich als Operation mit Mengen verstehen. Die Mathematik lässt sich in ihrer Gesamtheit auf die Mengenlehre zurückführen. Sinnvoll ist das, wenn man versucht, die Mathematik auf Schwächen hin zu prüfen, etwa verborgene Widersprüche, die aufgrund eines ausufernden Umgangs mit dem Konzept des Unendlichen zu unerwarteten Fehlern führen könnten.

Doch in den dafür nötigen Konstruktionen verbirgt sich eine Kuriosität, die als besonderer Treppenwitz der Mathematikgeschichte gelten kann. Um Mathematik zu betreiben, braucht es irgendwelche Gegenstände. Es ist also nötig, zumindest ein Element einzuführen, um daraus Mengen zu bilden und Schritt für Schritt die natürlichen Zahlen und darauffolgend alle anderen Zahlen zu konstruieren.

Nun ist es möglich, ein erstes Element zu definieren, etwa ein Mengenlehre-Pendant zur Eins. Dagegen spricht nichts, außer dem ästhetischen Empfinden der Mathematikerinnen und Mathematiker, die es gerne einfach haben. Und nach deren Verständnis ist es nicht sonderlich ästhetisch, ein Element einzuführen, wenn man doch bereits über eines verfügt, das alle nötigen Eigenschaften besitzt.

Die Mengenlehre benötigt nämlich, wie oben angedeutet, ein triviales Element, eine leere Menge, die in diesem System das Pendant zur Null darstellt und auch ähnlich geschrieben wird. Nun vermag sich niemand so recht vorzustellen, was eine leere Menge sein soll. Umgangssprachlich sprechen wir schließlich erst von einer Menge, wenn wir mehrere Dinge vor uns haben. Mathematisch gesehen ist die leere Menge aber bereits von vornherein Bestandteil des Systems.

Aus diesem Grund wird für die Konstruktion der Mathematik aus der Mengenlehre auch kein neues Element eingeführt. Man greift auf die leere Menge zurück. Die Idee eines trivialen mathematischen Nichts, die noch im Mittelalter in die Illegalität gedrängt wurde, genießt inzwischen so großes Vertrauen, dass man ihr zutraut, das gesamte Gebäude der Mathematik zu tragen.

Wenn also jedes Jahr am 31. Dezember der Countdown abläuft, knallen die Korken nicht nur zur Begrüßung des neuen Jahres, sondern auch für das trivialste Konzept der Mathematik, das aus dem Orient kommend unser Leben für immer veränderte. (Reinhard Kleindl, 31.12.2023)