Hito Steyerl
Hito Steyerl, oft "most critical artist" genannt, wurde 2017 als erste Frau zur wichtigsten Künstlerin des Power-100-Rankings gewählt.
Steyerl

Sie war eine der ersten Personen aus dem Kunstbetrieb, die sich zu Wort meldeten. In einem umfassenden Interview mit dem Spiegel Ende Oktober äußerte sich Hito Steyerl zu der zunehmenden Spaltung der Kunstwelt in Bezug auf den Gaza-Krieg. Kurz nach dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober veröffentlichte das US-Kunstmagazin Artforum auf seiner Webseite einen offenen Brief, den tausende Personen aus der internationalen Kunstszene unterzeichneten.

Darin wurde – bevor es ein nachträgliches Update gab – allerdings nur vom Leid in Gaza gesprochen. Steyerl übte scharfe Kritik an dieser Einseitigkeit und unterzeichnete einen Gegenbrief, der sowohl die israelische Besatzung als auch die humanitäre Krise in Gaza sowie die Gewalt an unschuldigen Zivilisten in Israel anklagt.

Hito Steyerl gilt als eine der bedeutendsten Künstlerinnen der Gegenwart und scheut sich nicht, ihre Meinung öffentlich zu sagen. Auch wenn sie damit gegen den Strom schwimmt. Ihre auf der Documenta 15 gezeigte Arbeit zog sie aus Protest gegen die Antisemitismusvorwürfe auf der Weltkunstschau in Kassel nach nur drei Wochen ab – und zeigte sie hingegen in einer Videothek.

Hysterie um NFTs und KI

Wenig verwunderlich, dass die 1966 in München Geborene auch als "most critical artist" bezeichnet wird. Eine Zuschreibung, mit der sich nun auch das Filmmuseum in Wien schmückt, das Steyerl von Mittwoch bis Freitag eine Retrospektive widmet. Erstmals werden ihre filmischen Arbeiten in einem traditionellen Kinoraum zu sehen sein. Die Künstlerin ist auch selbst vor Ort – Diskussionsmaterial gibt es bestimmt genügend.

Die Medienkünstlerin ist bekannt für ihre innovativen Werke, in denen sie Themen wie Globalisierung, Technologie und auch politische Gewalt miteinander verknüpft, um die sie eine vielschichtige Erzählung spannt. In Animal Spirits, einer ihrer jüngsten Arbeiten, jene, die auf der Documenta lief und im Herbst 2022 im Kunsthaus Graz präsentiert wurde, brachte sie den Umgang mit Ökologie und Ökonomie am Beispiel der Bejagung von Wölfen als skurriles Kryptovideospiel zusammen.

Im Jahr 2021, als NFTs auch in der Kunstwelt ankamen und viele Stimmen von einem unglaublichen und andauernden Boom sprachen – der inzwischen wieder verebbt ist –, nannte Steyerl diesen Hype eine "Blase für Doofe". Kürzlich sagte sie dem Magazin Profil in einem Interview, dass die aktuelle "KI-Hysterie" im Vergleich zu anderen Hypes länger andauern werde. Die Künstlerin, die im Alter von 55 Jahren Programmieren lernte, beschäftigt sich aktuell mit künstlicher Intelligenz.

Deutschland im Fokus

Schon in ihren frühen Filmen aus den 1990er-Jahren griff Steyerl höchstaktuelle und politische Fragestellungen auf, um sie kritisch zu hinterfragen. In Die leere Mitte aus dem Jahr 1998 verwebt die in Berlin lebende Künstlerin mehrere Zeitebenen, die alle von dem Gebiet erzählen, auf dem einst die Mauer stand. Wie sahen die Tage nach ihrem Fall aus? Wie wandelte sich diese ehemalige "Todeszone" durch Bebauung und Investments? Wie sah die Situation im 18. Jahrhundert dort aus? Und wie ergeht es den Menschen dort heute?

Mit anderen Arbeiten wie Babenhausen (1997) oder ihrem "Heimatfilm" Deutschland und das ich (1994) dokumentiert sie ein erschreckend aktuelles Bild von Deutschland. Es geht um gelebten Antisemitismus, unbeugsamen Nationalismus sowie die ständige Selbstbeschäftigung der Deutschen mit sich und ihrer Geschichte. Bei manchen Szenen, in denen beispielsweise betrunkene Männer die Bundeshymne grölen und rassistische sowie sexistische Lieder anstimmen, möchte man gern den Blick abwenden.

Kein Insta, Tiktok und Co

Auch als Steyerl 2015 auf der Venedig-Biennale gemeinsam mit drei anderen Positionen den deutschen Pavillon bespielte, warf sie mit ihrer Videomontage einen kritischen Blick auf das zeitgenössische Deutschland und seine Gesellschaft.

Davon, dass die Tochter eines Deutschen und einer Japanerin, die an der Akademie der bildenden Künste in Wien promovierte, laut Kunst-Rankings zu einer der wichtigsten und einflussreichsten Personen im Kunstbetrieb zählt, hält Steyerl selbst nicht viel. Und auch von sozialen Medien lässt sie weitgehend die Finger. Eigentlich eine Seltenheit in Zeiten wie diesen, vor allem als derart prominente Medienkünstlerin. Doch Hito Steyerl wäre sonst wahrscheinlich nicht Hito Steyerl. Mainstream ist nicht so ihr Ding. (Katharina Rustler, 6.12.2023)