Caracas – Nach einem umstrittenen Referendum über die Grenze zu Guyana hat Venezuelas Präsident Nicolás Maduro angekündigt, das dem südamerikanischen Nachbarland unterstehende ölreiche Gebiet Essequibo per Gesetz zu einer venezolanischen Provinz erklären zu wollen. Bei einer Kabinettssitzung am Dienstag schlug er vor, der Nationalversammlung einen entsprechenden Gesetzesentwurf vorzulegen. Zudem wies Maduro den staatlichen Ölkonzern an, "sofort" Lizenzen für die Förderung von Erdöl und Erdgas sowie den Bergbau in Essequibo zu vergeben. Dort bereits tätige Firmen – darunter die US-amerikanische Exxon Mobil – hätten drei Monate, um die Gegend zu verlassen. Guyanas Präsident Irfaan Ali sprach von einer "direkten Bedrohung" für sein Land.

Guyana Esequiba: von Venezuela beanspruchtes Gebiet, das Teil von Guyana ist.
Der Standard

Mehr als 10,4 Millionen Venezolaner hatten sich am Sonntag an dem nicht bindenden Referendum beteiligt. Knapp 96 Prozent der Teilnehmer bejahten dabei die Frage, ob ein neuer venezolanischer Bundesstaat namens Guayana Esequiba geschaffen und die dortige Bevölkerung die venezolanische Staatsbürgerschaft bekommen soll, wie die Wahlbehörde CNE am Abend mitteilte. Alle fünf Fragen des Referendums wurden nach offiziellen Angaben mit zwischen 95,4 und 98,11 Prozent der Stimmen mehrheitlich mit Ja beantwortet. Darunter war auch die Frage, ob Venezuela die Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofs (IGH) in der Angelegenheit ablehnen soll.

Video: Umstrittenes Referendum über Grenze zu Guyana in Venezuela
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Die Essequibo-Region, benannt nach dem größten Fluss Guyanas, ist eine extrem diverse, noch weitgehend vom Menschen unberührte Gegend mit tropischen Wäldern, wasserreichen Savannen und Tafelbergen. Dort leben vor allem Indigene. Geostrategisch interessant ist sie, weil sich dort Öl, seltene Erden, Bauxit, Mangan, Diamanten und Goldvorkommen befinden. 125.000 der insgesamt 800.000 Einwohner Guyanas leben dort.

Prozess läuft

Der Konflikt geht zurück auf eine unklare Grenzziehung zwischen den Kolonialmächten Großbritannien und Spanien. Guyana verteidigt eine Grenze, die auf Betreiben der USA 1899 von einem Schiedsgericht festgelegt wurde. Venezuela argumentiert, dass der Fluss die natürliche Grenze sei, so wie es 1777 der Fall war, als Venezuela noch Generalkapitanat des spanischen Reichs war. Es beruft sich auf das Genfer Abkommen, das 1966 vor der Unabhängigkeit Guyanas vom Vereinigten Königreich unterzeichnet wurde und das den früheren Schiedsspruch aufhebt und die Grundlage für eine Verhandlungslösung schafft.

Guyana rief nach ersten Erdölfunden 2018 den IGH an und forderte die Richter auf, den Grenzbeschluss von 1899 für gültig und verbindlich zu erklären. Der IGH nahm den Fall an, obwohl Venezuela die Zuständigkeit des Gerichts bestreitet. Ein Urteil dürfte jedoch erst in einigen Jahren ergehen. Im Vorfeld des Referendums forderte der IGH Maduro auf, den Konflikt nicht zu verschärfen, und erklärte, das Plebiszit habe keinerlei juristische Wirkung. Dennoch beharrt Maduro darauf. Denn der Anspruch auf die Essequibo-Region eint die Venezolaner, egal welcher politischen Richtung – für Maduro ein willkommenes Ventil, um von seinen innenpolitischen Schwierigkeiten abzulenken.

Bedeutender Ölfund

Guyanas Generalstaatsanwalt Anil Nandlall erklärte am Dienstag, er werde den UN-Sicherheitsrat um Hilfe bitten, sollte Venezuela nach dem Referendum weitere Schritte unternehmen. Präsident Ali sagte später, Maduros Äußerungen stellten "eine direkte Bedrohung der territorialen Integrität, der Souveränität und der politischen Unabhängigkeit von Guyana dar". Essequibo macht mehr als zwei Drittel der Landesfläche der früheren britischen Kolonie aus.

Durch die Rupununi-Savanne fließt ein Fluss.
Die Rupununi-Savanne im Osten Guyanas liegt nahe der Grenze zu Venezuela.
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Die Begehrlichkeiten rund um Essequibo nahmen vor allem zu, nachdem der Ölkonzern Exxon Mobil 2015 in dem Gebiet ein Ölvorkommen entdeckt hatte. Im Oktober dieses Jahres wurde in der Region ein weiterer bedeutender Ölfund gemacht, der die Reserven Guyanas auf mindestens zehn Milliarden Barrel – und damit auf mehr als die des ölreichen Kuwait oder der Vereinigten Arabischen Emirate – vergrößert. Exxon Mobil fördert an der Spitze eines Konsortiums in der umstrittenen Region seit 2018 Öl und hofft, sich weitere Konzessionen zu sichern. Bis 2035 könnte das Land rund 1,7 Millionen Barrel Öl täglich fördern. (wss, APA, 6.12.2023)