Am 17. Februar dieses Jahres wurde im Landesgericht für Strafsachen in Wien einer 91-jährige Frau der Prozess gemacht. Die Anklage legte ihr zu Last, in ihrer Wohnung in Wien-Simmering aus einer Situation der Überforderung heraus Feuer gelegt zu haben. Dabei kam ihr 93-jähriger, pflegebedürftiger Ehemann ums Leben. Die Beschuldigte wurde zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Das Urteil ist rechtskräftig. Die Frau ist zurzeit die älteste Gefangene im österreichischen Strafvollzug. Der älteste männliche Gefangene steht im 88. Lebensjahr.

Zwei Wochen lang wurde die Frau jedoch im April dieses Jahres von einer noch älteren Wienerin übertroffen. Es handelte sich um eine 93-Jährige demenzkranke Wienerin, die im Zustand ihrer Verwirrtheit ihre 24-Stunden-Pflegerin mit einem Messer angegriffen hatte. Sie hatte ihre neue Pflegerin für eine Einbrecherin gehalten, weshalb sie mit einem Küchenmesser auf die vermeintliche Unbekannte losging. Die 24-Stunden-Hilfe schrie um Hilfe und schützte sich mit einem Schneidbrett. Die 93-Jährige ließ das Messer fallen, ihre Pflegerin blieb unverletzt. Dennoch wurde die hochbetagte Frau in eine Haftanstalt gebracht. Offenbar wussten die Behörden nicht, was sie mit ihr machen sollten.

Im Gefängnis war die alte Frau völlig überfordert und desorientiert. Sie hat sich nicht zurecht gefunden und vor den uniformierten Beamten gefürchtet. Der Rechtsvertreter der 93-Jährigen schaltete schließlich einen psychiatrischen Sachverständigen ein. Der kam erwartungsgemäß zu dem Schluss, dass die Frau weder schuldfähig noch gefährlich ist. Zwei Wochen verbrachte die Wienerin hinter Gittern, ehe sie in ein Pflegeheim gebracht wurde. Die Zahl der Senior:innen hinter Gittern steigt stetig an. Nur in wenigen Haftanstalten gibt es für Pflegebedürftige spezielle Abteilungen. Das Phänomen ist europaweit zu verzeichnen, als Folge eines demografischen Wandels.

Außenaufnahme Gefängnis
Wie kann "Besserung" gelingen, wenn Betroffene gar nicht wissen, warum sie im Gefängnis untergebracht sind?
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Maßnahmenvollzug ist ein komplett falsches Setting

Martin Marlovits, stellvertretender Fachbereichsleiter Erwachsenenvertretung beim VertretungsNetz, spricht von einer zunehmenden Zahl von Menschen mit Demenz, die minder schwere, ihnen aufgrund ihrer Erkrankung nicht bewusste, Delikte (wie zum Beispiel gefährliche Drohung) begehen und daraufhin in den Maßnahmenvollzug überstellt werden. Die Diagnose Demenz alleine reicht nicht zur Minderung der Haftfähigkeit aus. "Der Maßnahmenvollzug ist ein komplett falsches Setting für diese Personengruppe", ist Marlovits überzeugt.

Zweck der Unterbringung ist ja die Behandlung und "Besserung" im Sinne eines Abbaus der Gefährlichkeit und der Vermeidung einer (neuerlichen) Tatbegehung: "Diese Menschen (mit Demenz oder Beeinträchtigung) verstehen aber krankheitsbedingt oft nicht einmal, warum sie untergebracht sind und können die geforderte Compliance nicht leisten. Damit haben sie keinerlei Perspektive auf Entlassung oder auch nur auf Lockerungen, was wiederum zu extrem langen Unterbringungszeiten führt. Einer unserer Klienten ist zum Beispiel seit über 30 Jahren im Maßnahmenvollzug untergebracht und massiv hospitalisiert."

Peter Kaster, stellvertretender Geschäftsbereichsleiter in der Volksanwaltschaft, ergänzt "Solange das Gericht nichts Gegenteiliges ausspricht, sind alle rechtskräftig Verurteilten hafttauglich. Krankheit, körperliche Gebrechen, psychische oder sensorische Beeinträchtigungen, kognitive Störungen oder Invalidität stehen per se weder dem Vollzug einer Freiheitsstrafe, noch einer freiheitsentziehenden vorbeugenden Maßnahme entgegen. Vielmehr ist es Aufgabe der Vollzugsverwaltung, sämtlichen Gefangenen Lebens- und Aufenthaltsbedingungen zu gewähren, die sie nicht benachteiligen oder diskriminieren."

Senior:innen im Strafvollzug

Mit zunehmenden Alter nimmt die Mobilität der meisten Menschen ab. 67,7 Prozent der über 60-Jährigen Inhaftierten klagen über Einschränkungen ihrer Beweglichkeit, 22,7 Prozent haben Probleme beim Sehen, 16,9 Prozent beim Hören. 40,4 Prozent leiden unter mehrfachen Beeinträchtigungen. Eine weiteres, häufig auftretendes Problem, sind kognitive Beeinträchtigungen oder Einschränkungen der lebensälteren Insas:innen.

Liane Meyer, Professorin für Angewandte Gesundheits-und Pflegewissenschaften an der Dualen Hochschule Baden Württemberg Karlsruhe, beschreibt in ihrer Studie "Strafvollzug und demografischen Wandel", dass der demografische Wandel der Gesellschaft auch im Strafvollzugssystem zu beobachten ist. Sie führt aus, dass die Anzahl der Inhaftierten (vor allem bei den jüngeren Insassen) kontinuierlich sinkt, die Anzahl der der über 50- jähirgen Häftlinge seit über 25 Jahren jedoch kontinuierlich ansteigt. Sie führt dies sowohl auf die Zunahme der älterer Bevölkerungsteile, als auch auf eine Veränderung der Sanktionspraxis, insbesondere die häufigere Verhängung von lebenslangen Freiheitsstrafen und Sicherungsverwahrung, zurück. Dies stellt den Strafvollzug vor besondere Herausforderungen. Die gesundheitliche Situation älterer Strafgefangener, die oftmals durch soziale Isolation, Eintönigkeit des Alltags und Bewegungsmangel geprägt ist, macht eine Anpassung der Versorgung und der Gestaltung der Vollzugseinrichtungen notwendig.

Sandra Verhülsdonk, Gerontologin und Forensische Psychologin, sowie Leiterin der Forschungs-AG "Gerontologie und Delinquenz" führt die Beobachtungen von Meyer weiter und schreibt in ihrer Arbeit "Kognitive Beeinträchtigungen und Möglichkeiten der Intervention": "Internationale Arbeiten unterstreichen daneben ein erhöhtes Vorliegen verschiedener Risikofaktoren für die Entwicklung kognitiver Defizite. Dabei scheinen zum Beispiel eine körperliche, geistige und soziale Inaktivität sowie eine einseitige Ernährung die größten Einflussfaktoren zu sein." Bezogen auf Menschen mit Demenz im Strafvollzug bedeuten diese Risikofaktoren ein rascheres Voranschreiten der Erkrankung, falls die Demenz überhaupt diagnostiziert wird. Aufgrund der starren Routine, dem Fehlen von (für Senior:innen) zu erledigenden Alltagsaufgaben oder spontaner Herausforderungen liegt die Vermutung nahe, dass Demenzen oft nicht festgestellt werden.

Andrea Kenkmann, Professorin für Soziale Gerontologie an der Hochschule Nordhausen, schreibt in ihrem Artikel "The Fragmented Picture of Social Care for Older People in German Prisons": "Der Gesundheitszustand älterer Gefangener ist erheblich schlechter im Vergleich zur extramuralen Gruppe älterer Menschen, wobei der beschleunigte Alterungsprozess einen Unterschied von bis zu 15 Jahren hinsichtlich des kognitiven Abbaus ausmachen könnte. Gefängnisse wurden für eine viel jüngere Bevölkerung konzipiert und sind daher ungenügend darauf vorbereitet, den oft komplexen Bedürfnissen älterer Menschen gerecht zu werden."

Keine Barrierefreiheit gegeben

Peter Kaster schildert dazu ein Gespräch mit inhaftierten Männern, die im Rollstuhl sitzen "Vor einigen Wochen habe ich in der JA Wien-Josefstadt, Österreichs größtem Gefangenenhaus einen Sprechtag gehalten. Als einzige hat diese Justizanstalt noch den Status einer Sonderkrankenanstalt. Auf der Krankenabteilung hatte ich mit drei Männern unterschiedlichen Alters, die alle im Rollstuhl saßen, ein Gespräch. Wie ich durch Zufall erfuhr, waren sie seit Monaten nicht im Freien. Der Grund: einige Stufen, die vom Haus in den Innenhof führen und von ihnen nicht aus eigener Kraft überwunden werden können. Kein Beamter sieht sich zu einer Hilfestellung bemüßigt oder berufen." Kaster beschreibt den Zustand in den österreischischen Justizanstalten als "durchwachsen".

Im Rahmen etlicher Besuche in unterschiedlichen Justizvollzugsanstalten Österreichs stellte er fest, dass "viele ältere Gebäude (über ihren Haupteingang) nicht barrierefrei erreichbar sind. Auch innerhalb des Hauses erschweren Stufen, Schwellen und Niveauunterschiede den Menschen, die an Bewegungseinschränkungen leiden, ein selbstbestimmtes Fortkommen. Oft liegen die für sie reservierten Hafträume im Bereich der Ordination oder Krankenabteilung, die in einem Obergeschoss an- gesiedelt ist. 14 Aufzüge oder Treppenlifte sind nur über einen beträchtlichen Umweg zu erreichen, können eigenständig nicht benutzt werden oder enden im Halbstock, sodass Außenanlagen ohne die Hilfe Dritter nicht erreicht werden können. 15 Türen und Gänge sind häufig zu eng, Schwellen zu hoch, Rampen zu steil und ohne beidseitige Absicherung durch Handläufe. Die Anfahrtsbereiche und Podeste sind zu kurz, bisweilen fehlen sie gänzlich. Vielfach sind für Menschen, die im Rollstuhl sitzen, Türschnallen, Fenstergriffe oder Notruftasten nicht erreichbar. Hand- Waschbecken findet man zu hoch montiert oder so weit vorstehend, dass die Armatur nicht bedient werden kann. Duschen sind ohne (Klapp-)Sitz und verstellbare Schlauchbrause, Nassräume ohne Halte- und Stützgriffe, zu gering dimensioniert und damit für Menschen mit motorischen Störungen nicht nutzbar. In Österreichs größter Justizanstalt, dem landesgerichtlichen Gefangenenhaus in Wien-Josefstadt mit 990 Haftplätzen (Stand 03/2022), ist es einer Person, die auf den Rollstuhl angewiesen ist, nicht möglich, ohne fremde Hilfe das WC zu benutzen. Die Tür zur Toilette ist schlichtweg zu schmal."

Pflege im Strafvollzug

Sandra Gaupmann, Bundesleitungsmitglied der Unabhängigen Gewerkschaft UGöD und stellvertretende Vorsitzende im Zentralausschuss der nichtexekutiven Bediensteten an Justizanstalten, sieht zusätzlich zu den fehlenden (finanziellen) Anreizen die immer größer werdende Anzahl an alternden inhaftierten Menschen als Herausforderung für Pflegepersonen in Haftanstalten Eine weitere Verschärfung des Fachkräftemangels sieht Sandra Gaupmann zudem darin, dass es aufgrund von immer weniger Entlassungen von Insassen und verstärkter Einweisung in den Maßnahmenvollzug von psychisch kranken Rechtsbrechern zu einer Veralterung der Inhaftierten im Strafvollzug kommt, was natürlich auch den Normalvollzug betrifft. Es werden bereits jetzt und auch in Zukunft verstärkt Pflegekräfte nötig sein, um den erhöhten Pflegebedarf von älteren Menschen in Haft gewährleisten zu können. Gaupmann fordert daher entsprechend konzipierte Justizanstalten oder Unterbringung der lebensälteren Häftlinge in spezialisierten (Nachsorge)Einrichtung für ältere, besonders pflegeintensive Insass:innen.

Aus,- Fort-, Weiterbildung, entsprechende Entlohnung des Personals, Anpassung der Begleitung, Pflege und Betreuung für lebensältere, inhaftierte Menschen, Reformierung des Maßnahmenvollzugs, Gesundheitsförderung für Menschen in Haft – das, was "die Gesellschaft draußen" für den Umgang mit ihren hochaltrigen und/oder an Demenz erkrankten Menschen braucht, braucht "die Gesellschaft drinnen" ebenso, auch wenn sie weggesperrt und nicht sichtbar sind.

Wir sind die Gesellschaft. Demenz geht uns alle an. (Marianne Buchegger, 12.12.2023 )