Wer macht das Rennen? Diese Frage stellt sich die österreichische Wahlbevölkerung im kommenden Jahr voraussichtlich viermal: Neben der Nationalratswahl werden auch die Wahlen zum Europaparlament und zu den Landtagen der Steiermark und Vorarlbergs abgehalten.

Umfragen können dabei eine Entscheidungshilfe für Unentschlossene sein. Aber sie wirken auf Wählerinnen und Wähler je nach Darstellung unterschiedlich, wie ein Forschungsteam der Unis Wien und Potsdam nun herausgefunden hat.

Knappes Rennen

Christina Gahn und Werner Krause untersuchten für ihre Studie, wann die Verdeutlichung von Schwankungsbreiten einen Einfluss auf das Wahlverhalten hat. Und tatsächlich wählen Menschen tendenziell anders, wenn sie die Unsicherheiten einer Umfrage bei einem knappen Rennen gezeigt und erklärt bekommen.

Zwei Sets an Umfragebalken, eines mit und eines ohne eingezeichnete Schwankungsbreiten. Davor ist ein Mann von hinten zu sehen, der sich am Kopf kratzt, über ihm ein Fragezeichen
Diese erfundene, aber plausible Umfrage erhielten die deutschen Probandinnen und Probanden 2021 – einmal mit, einmal ohne Schwankungsbreite.
Grafik: Faith Aydogdu

"Uns ging es in erster Linie um Mobilisierungseffekte", sagt Krause, der Potsdamer Teil des Duos, dem STANDARD. "Nehmen Bürger:innen ein enges Rennen wahr, werden sie dadurch auch veranlasst, für eine der größten Parteien zu stimmen."

Wählerinnen neigen zu Taktik

Einfach erklärt: Landet eine Partei in der Umfrage bei 25 Prozent und die andere bei 24 Prozent, können beide auf Platz eins liegen – weil die statistische Hochrechnung der Umfrage eben ein paar Unsicherheiten hat.

Wird diese Möglichkeit auch so dargestellt, wählten die Teilnehmer des in Deutschland durchgeführten Experiments anders: Sie wählten taktisch und stimmten eher für eine der beiden großen Parteien, um ihr die entscheidenden Stimmen für Platz eins zu verschaffen.

"Einzelne Prozentpunkte sagen wenig aus"

"Natürlich ist es für Journalist:innen spannender, zu schreiben: Partei A überholt Partei B", sagt die Wienerin Gahn. "Aber in Wahrheit sagen einzelne Prozentpunkte Unterschied oft wenig aus. Sie zeigen nur: Die Wahl ist offen." Das grafisch darzustellen, helfe dem Publikum, die Umfrage besser zu verstehen – auch ohne statistisches Wissen.

Die Schwankungsbreiten würden ein Gefühl für die Unsicherheiten einer Umfrage vermitteln, erklärt Krause: "Wenn sich die zwei Schwankungsbreiten überlappen, heißt das: Es kann sein, dass die Reihenfolge anders ist." Das sei zwar nicht immer so. Denn Schwankungsbreiten bilden nur einen Bruchteil der Unsicherheiten von Umfrageergebnissen ab. "Dieses laienhafte Urteil ist jedoch legitim, auch wenn der wissenschaftliche Hintergrund komplizierter ist", sagt der Politikwissenschafter.

Ideale Bedingungen vor Deutschland-Wahl

Der Schwankungsbreiteneffekt trat in Gahns und Krauses Experiment aber nur unter bestimmten Bedingungen auf: Nämlich dann, wenn das offene Rennen auch in einem Begleittext erklärt wird und zwei Parteien die Chance auf den ersten Platz hatten. Die befragten Personen tendierten dann zu einer taktischen Stimme, um Einfluss auf den ersten Platz auszuüben.

Die Bedingungen dafür waren im Erhebungszeitraum ideal: Einige Monate vor der deutschen Bundestagswahl 2021 deuteten die Sonntagsfragen auf ein Duell zwischen CDU/CSU und den Grünen hin. Die Umfragen, die die Teilnehmer der Online-Umfrage zu sehen bekamen, waren zwar erfunden, aber "zu dem Zeitpunkt plausibel", erklärt Gahn. "Das Besondere am Experiment war, dass wir die Erhebung mit echten Parteien machen konnten."

"Idealbild von Demokratie"

Nicht nur Wahlumfragen an sich stehen immer wieder zur Debatte, sondern auch taktische Wahlentscheidungen, wie sie Gahn und Krause beobachtet haben. Denn kleineren Parteien schaden solche Überlegungen üblicherweise: Sie verlieren Wählerinnen und Wähler, die ihnen politisch vielleicht näher stünden, aber den Wahlsieg für eine bestimmte Partei verhindern wollen.

"Das Idealbild von Demokratie ist, dass Bürger:innen klare Interessen haben und jene Partei wählen, die diese Interessen am besten repräsentiert", sagt Krause. Dem widerspreche der Gedanke des strategischen Wählens allerdings gar nicht, weil Wählerinnen und Wähler eben auch die Umsetzung der Parteiprogramme in der Regierung mitbedenken müssen.

SPD holte auf

Eine Pointe gibt es noch: Die echte Bundestagswahl haben in Deutschland nach der Erhebung bekanntlich weder die Union noch die Grünen gewonnen – sondern die Sozialdemokratie. "Die SPD hat in den Umfragen aufgeholt, nachdem unser Experiment abgeschlossen war", sagt Gahn. Das zeige aber eben nur, dass Umfragen allein nicht immer wahlentscheidend sind. (Sebastian Fellner, 29.12.2023)