Obdachlosigkeit, EU, Österreich
Bis 2030 will die EU Obdachlosigkeit überwinden. Dafür seien noch viele Anstrengungen nötig, sagen Expertinnen.
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"Es sind auch heute wieder sehr viele gekommen", sagt Günter Wimmer. Er steht in einem Raum, der mit seinen vielen Tischen und Stühlen aussieht wie ein Speisesaal. Manche der anwesenden Männer haben ihren Kopf zum Schlafen auf den Tisch gelegt, andere hören Musik, essen oder schauen auf den Computern im Eck des Raumes durch ihre E-Mails. "Es gibt einige, die schon seit Monaten oder Jahren herkommen", sagt Wimmer. Weil sie hier dreimal am Tag ein Essen bekommen, sich duschen und ihre Wäsche waschen oder sich mit anderen austauschen können. Ein Großteil schläft danach in Notquartieren in Wien.

Wimmer ist Leiter des P7, einer Sozialeinrichtung der Caritas neben dem Wiener Hauptbahnhof, die obdach- und wohnungslosen Menschen Notschlafstellen vermittelt. Je tiefer die Temperaturen sinken, desto mehr steigt die Nachfrage nach warmen Unterkünften und Betten. Laut Caritas sind die rund 1000 Betten in Notquartieren in Wien derzeit zu 95 Prozent ausgelastet. Sogenannte Streetwork-Teams, die versuchen, Menschen von der kalten Straße in ein warmes Quartier zu bringen, seien jeden Tag unterwegs. Immer wieder treffe man auf Menschen mit Erfrierungserscheinungen.

Kein Meldezettel

"Ich habe seit einiger Zeit Kopfschmerzen", sagt Tibor T., der sich im Eingangsbereich des Tageszentrums am Wiener Hauptbahnhof auf einen Stuhl gesetzt hat. Mehr als vier Stunden könne er pro Nacht kaum schlafen. Nach dem Duschen und Abendessen im Tageszentrum gehe er zum Schlafen in den Hauptbahnhof oder fährt zum Flughafen. "Da ist es ruhiger als in den Quartieren", sagt er, "ohne Menschen, die laut Musik hören oder telefonieren."

Anfang dieses Jahres arbeitete Tibor noch im Lagerhaus eines Logistikunternehmens in Düsseldorf. Als er dann vor einigen Monaten seinen Job verlor, konnte er sich die Miete nicht mehr leisten und zog nach Wien. "Ohne Meldezettel und mit schlechtem Deutsch ist es schwierig, wieder einen Job zu finden", sagt der gebürtige Ungar. Nach Ungarn könne er aber nicht zurück: "Arbeit zu finden ist dort sehr schwer und für Menschen ohne Wohnung gibt es kaum Unterstützung."

Obdachlosigkeit überwinden

Dass Tageszentren und Notquartiere für obdachlose Menschen auch heuer wieder bis zum Anschlag gefüllt sind, müsste nicht sein, sagen Hilfsorganisationen. Denn es gebe einige Maßnahmen, mit denen man gegensteuern könnte. Das sieht auch die EU so. Vor zwei Jahren formulierte sie das Ziel, bis 2030 die Obdachlosigkeit in Europa zu überwinden. Das ist durchaus ambitioniert. Denn seit den vergangenen zehn Jahren läuft die Entwicklung in die gegenteilige Richtung: Die Zahl der Obdachlosen in der EU ist um 70 Prozent gestiegen.

"Eigentlich wissen wir aber nicht einmal genau, wie viele Obdachlose es in der EU gibt", sagt Tanja Wehsely, Geschäftsführerin der Volkshilfe Wien. Denn viele Länder registrieren keine genauen Zahlen zu Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Zudem wird überall unterschiedlich definiert, ab wann jemand wohnungs- oder obdachlos ist.

Späte Hilfe

Auch in Österreich ist es schwierig, genaue Zahlen zur Wohnungs- und Obdachlosigkeit zu nennen. Laut der Statistik Austria waren 2021 in Österreich knapp 20.000 Menschen als obdachlos oder wohnungslos registriert. Während Wohnungslosigkeit jene Menschen betrifft, die keine eigene Wohnung haben, sondern beispielsweise in Wohnungen der Wohnungslosenhilfe wohnen, bezeichnet Obdachlosigkeit die Situation von Menschen, die auf der Straße, auf Plätzen oder in Notquartieren übernachten. Allerdings dürfte die Dunkelziffer deutlich höher sein. Denn viele Menschen kommen bei Freunden oder Bekannten unter oder versuchen, ihre Notlage zu verbergen.

"Viele Menschen suchen sich erst sehr spät Hilfe", sagt Elisabeth Hammer, Sozialwissenschafterin und Geschäftsführerin der Sozialorganisation Neunerhaus. Der Rucksack, den viele Menschen zu den Beratungsstellen mitnehmen, sei dann oft schon ziemlich schwer. Wichtig sei es deshalb, dass es ein dichtes Netz an niederschwelligen Angeboten für wohnungs- und obdachlose Menschen gibt. Und dass Menschen möglichst schnell wieder Wohnungen bekommen, bevor es zu einer existenziellen Not kommt.

Schnell zur Wohnung

"Housing First" nennt sich das Konzept, das genau das versucht. Statt lange Zeit in Notunterkünften unterzukommen, sollen obdachlose Menschen möglichst schnell eine eigene Wohnung mit eigenem Mietvertrag erhalten. In der Anfangszeit werden sie zudem von Sozialbetreuern im Alltag unterstützt. Das Konzept stammt ursprünglich aus den USA und wird in Europa vor allem von Finnland seit vielen Jahren umgesetzt. Der Effekt: Die Zahl der Obdachlosen hat sich in dem Land von 2008 bis 2022 halbiert.

Das ist einer der Gründe, weshalb auch das Sozialministerium in Österreich nun auf Housing First setzt. Bis 2024 sollen insgesamt tausend obdachlose Menschen in allen Bundesländern mit Ausnahme von Tirol und Vorarlberg eine eigene Wohnung erhalten. Mit insgesamt 6,6 Millionen Euro sollen Finanzierungsbeiträge, Umzugskosten und Kautionen übernommen werden.

Bewährtes Konzept

Für die Sozialorganisationen, von denen einige bereits seit einigen Jahren mit Housing First arbeiten, ist das ein Erfolg. "Das Konzept hat sich bereits sehr bewährt", sagt Hammer. 93 Prozent aller ehemals obdachlosen Menschen, denen durch Housing First bereits eine eigene Wohnung vermittelt wurde, bleiben auch langfristig in der Wohnung. Durch die Förderung bekomme der Ansatz jetzt noch einmal einen Schub. "Auch die Wohnwirtschaft wird dadurch stärker in die Verantwortung genommen, leistbaren Wohnraum zu schaffen", sagt Hammer.

Trotzdem gibt es noch einige Hürden. Einerseits sei der Wohnungsmarkt speziell für Menschen mit niedrigem Einkommen derzeit noch sehr eng. Energiekrise und Inflation verstärken diese Entwicklung noch. Andererseits seien obdachlose Menschen nach wie vor vielen Diskriminierungen und Stigmatisierungen ausgesetzt. "Obdachlose Menschen haben es deshalb oft noch viel schwerer, eine neue Wohnung zu finden", sagt Hammer.

Fehlendes Einkommen

Zudem ist eine Voraussetzung für Housing First, dass die Betroffenen ein eigenes Einkommen haben. Denn sie müssen die Miete selbst zahlen. Noch einmal schwerer ist es für Menschen wie etwa Tibor T., die keine österreichischen Staatsbürger sind und damit keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben. "Sie kommen deshalb nicht oder nur sehr schwer über die Notquartiere hinaus", sagt Wimmer vom P7. Hinzu kommt ein Teufelskreis aus fehlender Meldeadresse, Arbeit und Wohnung.

Es ist ein Thema, das die gesamte EU betrifft. "In vielen Ländern herrscht eine Politik der Armenvertreibung", sagt Wehsely. Ungarn machte Obdachlosigkeit beispielsweise vor einigen Jahren illegal. Obdachlosen, die von der Polizei auf der Straße aufgegriffen wurden, drohen dort Strafen. Indem bestimmte Bevölkerungsgruppen, wie beispielsweise LGBTQI-Personen, diskriminiert und verfolgt werden, steigt die Zahl der Menschen, die Zuflucht in anderen EU-Staaten wie Österreich suchen – ein "Push-Faktor", sagt Wehsely. "Städte wie Wien, die über ein vergleichsweise gutes soziales Angebot verfügen, werden von vielen dafür verurteilt, wenn sie diesen Personen dann Unterkünfte bieten. Dabei ist Wohnen ein Menschenrecht, das wie sauberes Wasser allen zustehen sollte."

Obdachlosigkeit "abschieben"

Auch andere Länder versuchen immer wieder, Obdachlosigkeit "abzuschieben", wie Hilfsorganisationen kritisieren. Frankreich kündigte beispielsweise an, Obdachlose und Migranten vor den Olympischen Spielen 2024 aus Paris in temporäre Aufnahmezentren außerhalb der Stadt zu bringen. Ein nicht ganz unähnlicher Vorschlag kam dieses Jahr vom Bürgermeister von Anchorage im US-Bundesstaat Alaska: Vor den kalten Wintermonaten sollten Obdachlose Gratis-Flugtickets in wärmere Gebiete erhalten – als One-Way-Tickets.

Dennoch gibt es auch positive Initiativen – selbst in Ländern, die wie Frankreich bei der Überwindung von Obdachlosigkeit nicht gerade Vorreiter sind. Der französische Verein Bureaux du Coeur versucht beispielsweise, obdachlosen Menschen und Menschen in prekären Situationen Büros von Unternehmen zur Verfügung zu stellen. Denn diese werden ohnehin 70 Prozent der Zeit nicht genutzt – beispielsweise nachts oder auch am Wochenende, heißt es von dem Verein. Die Personen können in den Büros nicht nur duschen, schlafen und kochen, sondern am Abend oder am Morgen auch mit den Angestellten in Kontakt treten, um sich auszutauschen oder Hilfe etwa bei Bewerbungsschreiben zu erhalten. Normalerweise bleiben die Personen drei bis sechs Monate in den Büros, heißt es von Bureaux du Coeur auf Nachfrage.

Derzeit arbeiten mehr als 80 Freiwillige in dem Verein, die interessierte Unternehmen auch zu den rechtlichen und sicherheitstechnischen Fragen hinsichtlich dieses Themas beraten. Die Initiative wurde bisher auf 20 französische Städte ausgeweitet und soll bald auch in Spanien und Portugal umgesetzt werden, heißt es von Bureaux du Coeur. 130 Unternehmen hätten sich bisher an der Initiative beteiligt.

Mehr Anstrengungen nötig

"Dass die EU und die Mitgliedstaaten das Problem der Obdachlosigkeit zumindest einmal benennen und etwas dagegen tun wollen, ist ein erster wichtiger Schritt", sagt Wehsely. Trotzdem seien künftig noch viele Anstrengungen notwendig, um das Problem besser in den Griff zu bekommen. Klar sei, dass es künftig beispielsweise noch viel mehr leistbaren Wohnraum brauche, der allen Menschen offensteht und dadurch auch zu einer besseren sozialen Durchmischung innerhalb einer Stadt beiträgt. Aber es werde auch weiterhin genügend Notquartiere brauchen.

Tibor T. geht noch duschen im Tageszentrum, bevor er sich auf den Weg zum Hauptbahnhof macht. Morgen wird er gleich in der Früh wieder ins Tageszentrum kommen, sagt er, um wieder ein paar Bewerbungen zu schreiben. Er will sich als Küchenhilfe bewerben, nicht nur in Wien, sondern auch in Salzburg und Tirol, sagt er – und hoffen, dass er neben dem Job auch eine Wohnung bekommt. (Jakob Pallinger, 10.12.2023)