In seinem neuen Werk "To Kill Ukraine", das im Sommer 2024 bei Basic Books erscheinen wird, setzt sich der Politologe Eugene Finkel mit Russlands Geschichte der Gewalt in der Ukraine auseinander. Neben Beiträgen für Fachjournale veröffentlicht Finkel regelmäßig Analysen und Leitartikel in der "Washington Post", der "Los Angeles Times", "Foreign Affairs" und anderen Medien. DER STANDARD hat mit ihm über seine Thesen gesprochen.

STANDARD: Professor Finkel, seit 21 Monaten führt ihr Geburtsland einen Abwehrkampf gegen Russland, während das, in dem Sie großteils aufwuchsen, im Krieg mit der Hamas steht. Wie geht es Ihnen Ende 2023?

Finkel: Nicht besonders gut, danke der Nachfrage. Aber mir ist bewusst, dass, wie es mir geht, nichts ist im Vergleich zu der physischen Gefahr, der die Menschen in der Ukraine, in Israel und im Gazastreifen ausgesetzt sind.

Bis der Westen eine Entscheidung zur Ukraine treffe, werde sich nichts zum Besseren wenden, meint Eugene Finkel.
Anna Fantuzzi

STANDARD: In den USA und in West- und Mitteleuropa zählt das Schlagwort "Kriegsmüdigkeit" mittlerweile zum Standard-Repertoire zahlreicher Politiker und Kommentatoren. Gleichzeitig scheint sich die Mehrheit der Entscheidungsträger in D.C., London, Berlin, Paris und anderen Hauptstädten bewusst zu sein, dass Russland auf den Faktor Zeit setzt – in der Hoffnung, dass sich die öffentliche Meinung dort gegen eine weitere Unterstützung der Ukraine wendet. Wie stellt sich der Status quo aus Ihrer Perspektive dar?

Finkel: Bis der Westen entscheidet, dass sich etwas ändern muss, und entsprechend handelt, wird sich nichts zum Besseren wenden. Wenn es bleibt wie jetzt, wird der Krieg einfach weitergehen. Die Menschen werden weiter sterben, und die meisten Flüchtlinge werden nicht nach Hause zurückkehren. Die Ukraine wird nicht wieder aufgebaut werden, und die Autokraten dieser Welt – allen voran Russland, Iran und China – werden sich stärker und mutiger fühlen. Es geht aber nicht nur um "Ukraine-Müdigkeit". Der Krieg in Gaza, die Wahlen in den Niederlanden – die Aufmerksamkeit verschiebt sich, und das ist genau, was Putin will und braucht. Für ihn würde das Einfrieren des Konflikts einem taktischen Sieg gleichkommen. Wenn das passiert, wird er als Nächstes versuchen, einen strategischen Sieg zu erringen und die Ukraine militärisch oder politisch unterwerfen. Die "Kriegsmüdigkeit" des Westens wird auch dazu führen, dass in Europa noch viele Jahre lang Krieg herrscht. Die Ukraine wird den höchsten Preis dafür zahlen, aber ich glaube nicht, dass die Entscheidungsträger in der EU verstehen, dass auch ihre Länder dafür zahlen werden. Die EU ist nicht bereit für einen langen Krieg an ihren Grenzen.

STANDARD: In den USA scheint die Mehrheit der Republikaner indes mit territorialen Zugeständnissen an Putin kein Problem zu haben, während die Demokraten uneinig scheinen, welche Art von Sieg der Ukraine sie wollen. Drastisch formuliert herrscht derweil hier in der Ukraine der Eindruck, dass die USA ihren Streitkräften zu wenig zum Überleben, aber zu viel zum Sterben liefern – einer, der sich nicht zuletzt quer durch die vielzitierte Analyse von General Walerij Saluschnyj zieht, die ihr Oberbefehlshaber jüngst im "Economist" veröffentlichte. Haben Sie Verständnis für diesen Eindruck?

Finkel: Ich glaube, dass in den USA zumindest innerhalb der Biden-Regierung und in der EU Einigkeit darüber herrscht, dass die Ukraine nicht in dem Sinn verlieren sollte, dass sie von Russland geschluckt oder vollständig unterworfen wird. Gleichzeitig herrscht Angst davor, was Russland tun könnte, wenn es klar verliert. Das könnte sich natürlich ändern, wenn Trump oder jemand wie er nächstes Jahr die Präsidentschaftswahl gewinnt. Aber im Moment liegt der westliche Fokus darauf, den Krieg zu managen nicht, ihn zu beenden. Insofern kann ich General Saluschnyjs Meinung mehr als nachvollziehen.

Ein eingefrorener Konflikt wäre für die Ukraine, glaubt der Politologe und Historiker Finkel, das Worst-Case-Szenario.
IMAGO/Dmitry Yagodkin

STANDARD: Obwohl Sie in der Vergangenheit stets darauf hingewiesen haben, dass gerade wir in den Medien mit dem Begriff Völkermord extrem vorsichtig umgehen sollten, waren Sie einer der ersten akademischen Analytiker von Rang, die den Angriffskrieg Russlands einen solchen nannten. Als Erklärung dafür sagten Sie im Frühjahr 2022: "Ich glaube nicht, dass die Russen ursprünglich genozidale Absichten hatten, aber es hat sich dahin entwickelt." Was genau meinen Sie damit?

Finkel: Ja, ich habe den Krieg bereits Anfang April 2022 als Völkermord bezeichnet. Ich glaube aber nicht, dass Putin anfangs vorhatte, die Ukrainer als nationale Gruppe zu zerstören. Basierend auf dem, was wir wissen, wäre die Ukraine, wenn sie im Februar 2022 kapituliert hätte, unterworfen worden. Es hätte einen Regimewechsel, eine Zerstörung der nationalen Identität und Kultur und wahrscheinlich die physische Ermordung der politischen und sozialen Eliten des Landes gegeben – aber keinen Massenmord. Erst als die Ukrainer Widerstand leisteten und sich weigerten, sich der "Russischen Welt" anzuschließen, hat sich die Rhetorik der russischen Regierung, der Medien und das Verhalten der Invasionstruppen geändert. Seitdem wollen sie die Ukrainer als Gruppe vernichten, als Rache für die Ablehnung dessen, was Russen für die natürliche Weltordnung halten: ein Land, in dem sie und die Ukrainer Teile eines größeren Ganzen und in dem Letztere die "kleinen Russen" sind.

STANDARD: Auch im Zusammenhang mit dem Krieg Israels gegen die Hamas fällt der Begriff Genozid heute oft – auf beiden Seiten. Wie bewerten Sie das?

Finkel: Für mich ist klar, dass die Hamas, wenn sie dazu in der Lage wäre, alle Israelis massakriert hätte, nicht nur die israelischen Juden. Gleichzeitig ist offensichtlich, dass es auf israelischer Seite Leute gibt, die den Gazastreifen gern in ein riesiges Fußballfeld verwandeln würden. Mir ist auch klar, dass die Vermeidung ziviler Todesfälle für Israels Militär bei seinen Einsätzen keine Priorität hat. Zusammengenommen bildet das die Grundlage für das Argument, dass Israel im Gazastreifen einen Völkermord begeht: die erhebliche Zahl ziviler Todesopfer, die hauptsächlich auf Artillerie- und Luftangriffe zurückzuführen ist, und die extreme Rhetorik, die Teile der israelischen Gesellschaft und ihrer politischen Klasse an den Tag legen. Ich kann die Logik dieses Arguments nachvollziehen, aber ich bin trotzdem anderer Meinung. Es ist zwar wahrscheinlich, dass das israelische Militär Kriegsverbrechen verübt, bei denen Zivilisten getötet werden – aber das geschieht eben nicht mit der Absicht, die Palästinenser als Gruppe zu vernichten.

STANDARD: Woher kommt dann der Genozid-Vorwurf an Israel?

Finkel: Völkermord ist nicht nur ein juristischer Begriff, sondern auch ein moralischer und politischer. Menschen verwenden ihn, um schreckliche Gewalt zu verstehen oder um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Jede Gewalt gegen Zivilisten ist schrecklich und falsch, unabhängig davon, ob sie den rechtlichen Definitionen von Völkermord entspricht oder nicht. Für mich persönlich ist der beste Indikator dafür, ob ein Völkermord stattfindet oder nicht, wie die direkten Interaktionen zwischen Soldaten oder Staatsbeamten und der Zivilbevölkerung ablaufen. Im Fall des Gazastreifens liegen uns derzeit keine Hinweise auf Massaker an Zivilisten vor. Auch wenn es bei Teilen der israelischen Regierung eine Zerstörungsabsicht geben mag, hat diese bisher keinen direkten Einfluss auf das Verhalten des Militärs.

STANDARD: Anlässlich des einjährigen Jubiläums der Invasion der gesamten Ukraine sagten Sie, dass das, was Sie an der Reaktion des Landes am meisten überrascht hat, nicht so sehr der zivile Aktivismus dagegen war, sondern die Tatsache, dass die staatlichen Institutionen, von der Regierung in Kiew bis hinunter zu den Regional- und Lokalverwaltungen, weiter relativ reibungslos funktionierten und es bis heute tun. Unterschätzen wir immer noch die ukrainische Staatlichkeit?

Finkel: Ich glaube nicht. Die Widerstandsfähigkeit der Ukraine und Teile ihrer Regierung, Verwaltung und Infrastruktur werden heute allgemein geschätzt – man denke nur an die Eisenbahnen, die dafür zum Symbol geworden sind. Allerdings: Nachdem sich die anfängliche Euphorie und Ehrfurcht gelegt hatten, erkannten auch viele, dass es sich eben nicht um einen "Wunderstaat" handelt, sondern um einen echten, in dem es Probleme wie Korruption, eine überbordende Bürokratie und Günstlingswirtschaft gibt und mancherorts noch immer eine sowjetische Mentalität herrscht. So groß die Bemühungen sind, diese Probleme zu lösen, werden sie nicht über Nacht verschwinden. Schon gar nicht in Kriegszeiten.

STANDARD: Was bedeutet das für die EU-Beitrittsperspektive des Landes?

Finkel: Bei der Entscheidung über den EU-Beitritt der Ukraine wird es nicht darum gehen, ob sie europäische Regierungsstandards erfüllen kann. Natürlich kann sie das. Es ist eine rein politische Entscheidung, und die Staaten, die gegen eine Mitgliedschaft sind, sollten deshalb aufhören, sich hinter Ausreden wie angeblich mangelhafter Regierungsführung und Korruption zu verstecken.

STANDARD: Sie haben jüngst auch argumentiert, dass das, was sich heute in den besetzten Gebieten der Ukraine abspielt, de facto eine Kopie der russischen Besatzung der Bukowina und Ostgaliziens während des Ersten Weltkriegs darstellt und damit einem sich wiederholenden historischen Muster entspricht, dem Russlands autoritäre Herrscher seit Jahrhunderten folgen.

Finkel: Es ist keine exakte Kopie, aber das Muster ist sehr ähnlich. Das österreichisch-ungarische Galizien und die Bukowina waren multiethnische Regionen, und die damalige russische Regierung nutzte diesen Umstand, um die Gruppen gegeneinander auszuspielen, um Unterstützung für die eigene Herrschaft zu gewinnen. Damals gab es beispielsweise den Plan, alle Juden zu enteignen, denen Land gehörte, und es ukrainischen Bauern zu überlassen. Wenn es darum geht, wie Russland die Identität und Geschichte der Ukraine sieht, sind die Ähnlichkeiten mit heute ebenfalls frappierend. Das zaristische Moskau sah Galizien als altes russisches Land. Die Russen plünderten und zerstörten, sie verboten die ukrainische Sprache, vernichteten auf Ukrainisch verfasste Bücher, nahmen gezielt ukrainische Künstler ins Visier und schickten Lehrer und Bürokraten dorthin, um die Region zu russifizieren – obwohl die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung keinerlei Lust hatte, russische Untertanen zu werden.

STANDARD: Was muss passieren, damit sich dieses Muster nicht mehr wiederholt?

Finkel: Der Wandel kann nur von innerhalb Russlands kommen. Erstens sollten die Russen aufhören, die Ukraine als historischen Teil Russlands und die Ukrainer als Russen zu betrachten, die mit ihrem "wahren Mutterland" vereint werden müssen. Das wird schwer, aber es ist nicht unmöglich. 1914 sahen die Russen Galizien noch als historischen Teil ihres Landes. Heute tun sie das nicht mehr. Selbst jene Russen, die die Ukraine heute vollständig annektieren wollen, wollen die Westukraine nicht länger kontrollieren. Der Wandel sollte auch durch Bildung, Kultur und eine Veränderung der Wahrnehmung der Russen ihrer nationalen Identität erfolgen. Erst wenn sie anfangen, die Ukraine als separaten Staat zu sehen, dessen Menschen anders sind als sie, wird es Frieden geben.

STANDARD: Was wäre das Worst-Case-Szenario für die Ukraine, wenn die aktuelle Situation, die zunehmend als Patt zwischen den Kriegsparteien wahrgenommen wird, auf absehbare Zeit anhält?

Finkel: Meiner Meinung nach wäre ein Einfrieren des Konflikts das Worst-Case-Szenario. In diesem Fall wird es keinen Wiederaufbau geben, viele Flüchtlinge werden nicht zurückkommen. Ausländer werden zu viel Angst vor Investitionen haben, und die Regierung wird, anstatt Geld für Gesundheit, Bildung und Wirtschaft auszugeben, weiter in die Verteidigung investieren müssen. Eine derartige Nichtlösung würde zudem verhindern, dass die Ukraine sinnvolle Sicherheitsgarantien erhält oder der Nato beitritt, und es wird ihre Chancen auf einen EU-Beitritt beeinträchtigen. Klar: Zypern ist der EU beigetreten, ohne seinen Territorialkonflikt zu lösen. Aber die Situation in der Ukraine ist viel schlimmer und instabiler. Im schlimmsten Fall wird die Ukraine zu einer militarisierten Gesellschaft werden, die vielleicht sogar nach Atomwaffen strebt, um sich zu schützen. Und es wird immer die Möglichkeit eines neuen Krieges geben, weil eingefrorene Konflikte – siehe Georgien und Berg-Karabach – leicht auftauen können. Ein eingefrorener Konflikt stellt entsprechend für alle Seiten den Worst Case dar: für die Ukraine, für den Westen und sogar für Russland. Der Einzige, der davon profitieren würde, ist Putin.

STANDARD: Und was wäre das Worst-Case-Szenario für Israel, wenn die aktuelle Situation auf absehbare Zeit anhält?

Finkel: Für Israel und die Palästinenser wären verschiedene Szenarien schlecht, und ich kann nicht einmal sagen, welche davon die schlimmsten sind. Ich glaube wie gesagt nicht, dass die derzeitige israelische Gewalt im Gazastreifen einen Genozid darstellt, aber ich kann mir vorstellen, dass es dazu kommen könnte. Eine Fortsetzung des Status quo, bei dem der Krieg mit einem Waffenstillstand endet, die Hamas aber weiter Gaza regiert, während sich in Israel die regierenden Rechtsextremisten weiterhin für Siedlungen im Westjordanland einsetzen und den demokratischen Rückfall befördern, könnte in einer neuen Intifada enden. Meine einzige Hoffnung besteht darin, dass es nach Kriegsende einen neuen Versuch geben wird, eine dauerhafte Lösung zu erreichen. Aber das wird unmöglich sein, wenn die Hamas und die derzeitige israelische Regierung an der Macht bleiben.

STANDARD: Sie sind in den sozialen Medien aktiv, allen voran auf Bluesky. Ihren Account auf Elon Musks X, vormals Twitter, haben Sie hingegen trotz zehntausender Follower stillgelegt. Warum? Und was sagen Sie jenen Followern Ihrer Kolleginnen und Kollegen, die dort nach wie vor aktiv sind?

Finkel: Ich war sehr in den sozialen Medien aktiv, als Russland in die Ukraine einmarschierte, eben weil ich viel über dieses Thema weiß. Aber irgendwann nimmt der Sinn des Engagements im öffentlichen Raum ab. Bezüglich X: Als Musk anfing, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit zu propagieren und offen seine Sympathie für autokratische Regime zu zeigen, gab es auf dieser Plattform keinen Platz mehr für mich. Die Anzahl meiner Follower spielte bei der Entscheidung, meinen Account stillzulegen, keine Rolle. Ich kenne Leute, die noch auf X aktiv sind, weil sie glauben, dass sie die Öffentlichkeit und die Community, die sie sich aufgebaut haben, weiter dort informieren müssen. Ich verstehe und respektiere ihre Entscheidung, aber ich konnte es nicht. Ich kann nur sagen, dass ich mich auf den Moment freue, in dem meine Expertise über Krieg und Massengewalt nicht mehr benötigt wird. Wenn das passiert, werde ich gerne alle meine Social-Media-Konten löschen. (Klaus Stimeder, 7.12.2023)