"Herr Premier Morawiecki, wie können Sie es wagen, uns in diesem Hohen Haus solche Lügen aufzutischen?", wetterte Barbara Nowacka von der noch oppositionellen Partei Bürgerkoalition (KO) am Montag im Sejm, dem Abgeordnetenhaus Polens. Gerade hatte Mateusz Morawiecki von der nationalpopulistischen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) sein chancenloses Regierungsprogramm für die nächsten vier Jahre vorgestellt. Chancenlos, weil alle im Sejm und in ganz Polen wussten, dass er die Vertrauensfrage im Sejm verlieren würde. Genau das geschah dann auch am späten Nachmittag. Nur wenige Stunden später beauftragte der Sejm KO-Chef Donald Tusk formell mit der Regierungsbildung. Dieser hatte aber bereits im Vorfeld eine Koalition geschmiedet und ein Regierungsprogramm vorgelegt. Bereits am Dienstag dürfte er somit den Abgeordneten die Vertrauensfrage stellen.

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Zwar hatten bei den Parlamentswahlen am 15. Oktober "so viele Polen wie nie zuvor für die PiS gestimmt", lobte zuvor Morawiecki in seiner Rede die eigene Partei. Dass jedoch für die künftige Koalition aus der liberalkonservativen KO, dem christlich-agrarischen Parteienbündnis Dritter Weg und der Neuen Linken knapp vier Millionen mehr Wahlberechtigte gestimmt hatten, erwähnte er nicht. Die PiS als Wahlverlierer setzte alles daran, die Machtübergabe so lange wie möglich hinauszuzögern. Präsident Andrzej Duda ließ sich breitschlagen, sich an dieser Groteske zu beteiligen und den Willen der Wähler zu missachten. So betraute er Morawiecki mit der Regierungsbildung, obwohl die PiS die absolute Mehrheit im Sejm verloren hatte und keine einzige Partei mit ihr zusammenarbeiten wollte.

Polen "an erster Stelle"

Morawiecki, der natürlich wusste, dass sowohl sein Regierungsprogramm als auch sein Kabinett zum Scheitern verurteilt waren, behauptete am Montag: "Das Projekt, das ich hier vorstelle, wird in jedem Fall gewinnen. Wenn nicht heute, dann in Zukunft." Polen müsse immer "an erster Stelle stehen", so Morawiecki, dann würde sich alles andere an "richtiger" Stelle befinden. Kein anderer Staat und auch nicht die EU dürften über Polen bestimmen. "Dabei ist unser Platz in Europa", betonte der PiS-Politiker – und fügte hinzu: "Aber nicht in einer zentralistischen EU."

Donald Tusk, Chef der liberalen Bürgerkoalition (KO), ist fast am Ziel.
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Herausforderungen der Zukunft seien der von der PiS geplante Großflughafen zwischen Warschau und Łódź, der Einstieg in die Atomenergie, der Aufbau der größten Landarmee Europas mit 300.000 Soldaten, die Beibehaltung der Rüstungsausgaben in Höhe von vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts sowie die Steigerung der Geburtenrate – dies sei der PiS trotz des Kindergeldes in Höhe von etwa 115 Euro pro Kind und Monat bislang nicht gelungen. Die PiS wolle unfruchtbaren Paaren helfen, doch noch ihren Kinderwunsch zu erfüllen, wobei die Wahl der Methode den künftigen Eltern überlassen werden solle.

"Wie können Sie es wagen?", empörte sich wieder Nowacka. "Sie haben doch selbst die In-vitro-Befruchtung abgeschafft. Haben Sie sich plötzlich bekehrt? Wo waren Sie, als schwangere Polinnen starben, weil diese zur Geburt todkranker Föten gezwungen wurden?" Auch Vertreter anderer Parteien ließen kein gutes Haar an Morawieckis "Regierungsprogramm als ob".

Streit mit der EU

Noch während der Sejm-Debatte am Montag fällte das von der PiS kontrollierte Verfassungstribunal in Warschau ein Urteil, mit dem es die Zwangsgelder, die der Europäische Gerichtshof (EuGH) gegen Polen verhängt hatte, für verfassungswidrig erklärte. Konkret geht es um zwei Fälle: den vom EuGH verhängten und zeitlich befristeten Stopp des Steinkohleabbaus im Kohlebergwerk Turów im Dreiländereck Polen-Tschechien-Deutschland sowie die Liquidierung der illegalen Disziplinarkammer für Richter am Obersten Berufungsgericht in Warschau.

Es ist das dritte Urteil des umstrittenen Verfassungstribunals, das polnisches Recht über EU-Recht und Urteile des EuGH stellt. Kläger war in diesem Fall Zbigniew Ziobro, inzwischen Ex-Justizminister und Ex-Generalstaatsanwalt, der für den Rechtsstreit zwischen Polen und der EU maßgeblich verantwortlich zeichnet. (Gabriele Lesser aus Warschau, 11.12.2023)