Vier übergewichtige Bauarbeiter von hinten fotografiert, auf einer Bank sitzend
Die Abnehmspritze ist erstmals ein Medikament, das erfolgreich gegen Adipositas und Diabetes hilft. Doch ohne deutliche Lebensstiländerung funktioniert auch das nicht langfristig, zeigen immer mehr Studien.
IMAGO/Jimmy Williams

Abnehmen mit Spritze – ohne Hungern, dafür mit beinahe sicherer Erfolgsgarantie: Dieses Konzept sorgt seit mittlerweile über einem Jahr für ungebrochene Aufregung. Denn erstmals gibt es mit den Wirkstoffen aus der Gruppe der GLP-1-Agonisten wie Semaglutid, Liraglutid oder Tirzepatid Medikamente, die das Abnehmen für Übergewichtige erleichtern und Diabetes-Betroffenen helfen, den Stoffwechsel besser zu regulieren. Gleichzeitig hat der große Erfolg von Medikamenten wie Ozempic und Wegovy einen regelrechten Hype um die Abnehmspritze als Lifestyle-Medikament ausgelöst, befeuert von Celebritys wie Elon Musk oder Kim Kardashian. Dieser Hype ist so groß, dass das Mittel teilweise für jene, die es aus medizinischen Gründen brauchen, nicht mehr ausreichend zur Verfügung steht.

Doch beinahe von Anfang an gab es auch kritische Stimmen. Denn diese Medikamente haben auch Nebenwirkungen. Man sollte sich sehr gut überlegen, ob man diese in Kauf nehmen will, wenn die Einnahme medizinisch nicht indiziert ist. DER STANDARD berichtete hier. Außerdem geben zahlreiche Expertinnen und Experten zu bedenken, dass der Gewichtsverlust nicht nachhaltig ist, wenn nicht parallel zur Medikamentengabe eine Änderung der Ernährungsgewohnheiten und des Lebensstils umgesetzt wird. Genau das wurde nun für den Wirkstoff Tirzepatid in einer klinischen Phase-III-Studie untersucht. Die Erkenntnisse wurden im Fachjournal Jama publiziert.

Tirzepatid bindet, ähnlich wie Semaglutid in Ozempic und Wegovy oder Liraglutid in Saxenda, an GLP-1-Rezeptoren, außerdem an glukoseabhängige insulinotrope Peptid-Rezeptoren. Dadurch hemmt es den Appetit, die Patientinnen und Patienten essen weniger und verlieren an Gewicht. Es ist seit dem Herbst 2022 in der EU zugelassen und in seiner Wirkung dem Semaglutid sogar überlegen, wie diese Studie zeigt. Geprüft wurde nun, inwiefern sich das Gewicht der Teilnehmenden veränderte, wenn das Medikament mit dem Wirkstoff Tirzepatid nach 36 Behandlungswochen abgesetzt und gegen ein Placebo getauscht wurde.

Verhaltenstherapeutisch begleiten

Die – nicht sehr überraschende – Erkenntnis der Studie: Die Probandinnen und Probanden nahmen nach dem Wechsel auf ein Placebo in weiteren 52 Untersuchungswochen wieder Gewicht zu. Nach etwa zwei Jahren, so die Schätzungen aufgrund der Studienergebnisse, hätten die Teilnehmenden wieder ihr ursprüngliches Gewicht erreicht. Überraschend ist das auch deshalb nicht, weil sich dieser Effekt bereits in Studien mit dem Wirkstoff Semaglutid gezeigt hat. Dabei wurde untersucht, wie sich das Gewicht von Probandinnen und Probanden, die bis dahin kontinuierlich Gewicht verloren hatten, in den ersten 20 Wochen nach Absetzung des Medikaments entwickelte. Auch diesem Wechsel folgte eine neuerliche Gewichtszunahme.

Nun stellt sich die Frage, ob es überhaupt möglich ist, dass Patientinnen und Patienten langfristig vom positiven Effekt dieser neuen Medikamente profitieren können, ohne diese dauerhaft einzunehmen. Und wie man sie absetzen kann, ohne danach wieder zuzunehmen, also ohne den sogenannten Rebound-Effekt. Diese beantwortet Anja Hilbert, Professorin für Verhaltensmedizin am Universitätsklinikum Leipzig, damit, dass jede medikamentöse Adipositastherapie verhaltenstherapeutisch begleitet werden sollte: "Es ist denkbar, dass Patientinnen und Patienten ihre Ernährungs- und Bewegungsgewohnheiten dadurch erfolgreicher umstellen und deshalb langfristig weniger stark wieder zunehmen."

Generell sollten die psychischen Effekte bei solch starken Gewichtsabnahmen und Wiederzunahmen umfassend psychologisch untersucht und gegebenenfalls psychotherapeutisch begleitet werden. "In der Studie zu Tirzepatid werden positive psychische Effekte beschrieben. Wir wissen aber aus der Adipositaschirurgie, dass starke Gewichtsab- und -wiederzunahmen auch psychische Nebenwirkungen mit sich bringen können", betont Hilbert.

Lebenslange "Wunderspritze"?

Keineswegs überrascht von den Studienergebnissen ist auch Stephan Martin, Chefarzt für Diabetologie am Westdeutschen Diabetes- und Gesundheitszentrum Düsseldorf. "Die Studienteilnehmenden wurden besonders ausgewählt und motivierend bei der Lebensstiländerung unterstützt. In einem normalen Setting käme der Rebound-Effekt wahrscheinlich sogar noch schneller." Seine Konklusio: Für anhaltenden Gewichtsverlust müssten die 'Wunderspritzen' wohl lebenslang gegeben werden. Das liege daran, dass die Wirkung der GLP-Analoga ja nur den Appetit reduziere und nicht das Ernährungsverhalten ändere.

Und Martin zweifelt daran, dass eine längere Gabe des Wirkstoffs die Wirkung nach dem Absetzen verändere: "Ich persönlich glaube nicht, dass sich das neue Medikament auch nach dem Absetzen langfristig auf das Gewicht auswirkt, nur weil man es davor länger gibt. Ich befürchte eher, dass bei einem längeren Einsatz die Wirkung der Medikamente nachlässt." Bei Personen mit Typ-2-Diabetes mache man diese Erfahrung bereits in der Praxis, vor allem wenn parallel zur Einnahme keine Lebensstiländerung erfolge.

Der Experte empfiehlt, kritisch zu überlegen, was die wirklichen Gründe für die Adipositas-Epidemie seien. "Es gibt viele Wissenschafterinnen und Wissenschafter, die das Verteufeln von Fetten und das Propagieren von Kohlenhydraten als wirkliche Ursache ansehen. Das erscheint auch auf physiologischer Ebene sehr plausibel." Denn das wesentliche Hormon, das den Fettstoffwechsel reguliert, ist Insulin, ist zu viel davon vorhanden, blockiert es die Fettverbrennung. Personen, denen Insulin fehlt, verlieren dagegen Gewicht.

Schwieriges Austricksen bei Gewicht

Bei Adipositas, erklärt Diabetologe Martin, haben die Betroffenen hohe Mengen an Insulin, dessen Produktion durch Zucker und Kohlenhydrate, aber auch Obst angeregt wird. "Der aktuell angeblich so gesunde Lebensstil mit vielen Kohlenhydraten und fünfmal am Tag Obst führt die Menschen in die Adipositas. Künstliche Süßstoffe, die in Kombination mit Kohlenhydraten den Insulinspiegel auch nach oben treiben, tun ihr weiteres dazu, dass die Menschen dick werden. Diese unsinnigen Empfehlungen münden im Nutriscore. Hier erhalten Gummibärchen ein B und Olivenöl ein E, obwohl wissenschaftlich nachgewiesen wurde, dass Olivenöl vor Herzinfarkten schützt." Er empfehle seinen Patienten, alles zu meiden, was Insulin anregt, und nennt das den Low-Insulin-Ansatz. "Die Erfolge mit diesem Ansatz sind mit den Gewichtsabnahmen von Semaglutid vergleichbar und wesentlich nachhaltiger."

Isabelle Mack, die den Bereich Ernährung und Gewichtsregulation in Klinik und Forschung am Universitätsklinikum Tübingen leitet, überlegt, ob eine Lebensstiländerung mit einer niedrigeren Dosis des Medikaments womöglich erfolgreicher ist. Aber: "Zum jetzigen Zeitpunkt ist das Spekulation. So eine grundlegende Veränderung des Ess- und Ernährungsverhaltens ist anstrengend, deshalb ist auch nicht klar, ob das funktionieren würde." Möglicherweise könne sich bei einer Subgruppe das Gewicht nach Absetzen der Adipositasmedikation dauerhaft stabilisieren. "Die Hoffnung ist aber nicht sehr groß, das hätten wir sonst ja schon längst bemerkt. Der Körper lässt sich einfach nicht gern austricksen, wenn es um sein Gewicht geht." (Pia Kruckenhauser, 13.12.2023)