Angeklagter E. sitzt vor Beginn der Verhandlung in einem Sessel im Gerichtssaal.
Der angeklagte 31-Jährige beteuerte von Anfang an seine Unschuld und sieht sich als Opfer einer Verleumdung.
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Wien – "Das ist doch kein Bild einer normalen, gesunden Beziehung", gibt Stefan Huber, Vorsitzender des Schöffengerichts im Verfahren gegen den 31-jährigen Herrn E., eine persönliche Wertung ab. Das Praktische daran: Die Aussage passt in jedem Fall. Egal, ob man der 34 Jahre alten Ex-Freundin des Angeklagten glaubt, die sagt, im Juli von ihm drei Tage lang in seiner Wohnung gefangen gehalten, gefoltert und vergewaltigt worden zu sein. Oder dem unbescholtenen Angeklagten, der die Vorwürfe entschieden zurückweist und überzeugt ist, von der Sexworkerin ausgenutzt worden zu sein, bis sie ihn verleumdete.

Was Staatsanwältin Leila Ivo, die als Sitzungsvertreterin die Anklageschrift einer Kollegin vorträgt, in ihrem Eröffnungsplädoyer schildert, lässt einen erschaudern. Aus den Aussagen der am 11. Juli von der Polizei weinend auf der Straße vorgefundenen Frau destillierte die Anklagebehörde folgende Geschichte: Sie kam am Nachmittag des 9. Juli in seine Wohnung, um restliche Habseligkeiten zu holen. Er attackierte sie überraschend von hinten und überwältigte sie, fesselte sie drei Tage lang mit Kabelbindern, vergewaltigte, schlug, erniedrigte und bedrohte sie teilweise im Beisein seines Bruders. Erst am 11. habe sie E. überzeugen können, dass sie ihn noch liebe und bei ihm bleiben werde. Daraufhin habe der Angeklagte ihre Fesseln gelöst. Nachdem er die Wohnung verlassen hatte, um Essen zu besorgen, habe sie flüchten können.

Fünf bis 15 Jahre Haft drohen dem Arbeitslosen dafür, aufgrund des Gutachtens des psychiatrischen Sachverständigen Peter Hofmann im Falle eines Schuldspruchs darüber hinaus auch die strafrechtliche Unterbringung in einem forensisch-therapeutischen Zentrum. Naheliegend, dass weder Verteidigerin Ina-Christin Stiglitz noch der Angeklagte das wollen. Also bekennt sich der geborene Österreicher, der seit Juli in Untersuchungshaft sitzt, nicht schuldig.

Teures Dinner mit Champagner

Er habe die Lettin erstmals über Freunde im Jahr 2018 kennengelernt, sei einmal im Jahr 2020 mit ihr essen gewesen, erzählt er dem Schöffensenat. Via Internet sei man in Kontakt geblieben, im September 2022 habe sie ihn neuerlich zum Essen eingeladen, erzählt er. Und zwar ins Restaurant eines Fünfsternehotels in der Wiener Innenstadt, in dem sie damals residierte, erinnert er sich. Geld schien für die Frau keine Rolle zu spielen – sie orderte auf ihre Zimmernummer eine Flasche Champagner Roederer Cristal um 3000 Euro.

Die Rechnung zahle ihre Firma, habe sie ihm erzählt. Für die betreibe sie Geldwäsche und erledige dubiose Botengänge. Nach einigen Tagen wurden die beiden ein Paar: "Ich dachte, ich habe den Lotto-Jackpot gemacht. Sie war eine attraktive, sehr intelligente Frau, die auch wohlhabend ist", schildert der Angeklagte vor Gericht. Sie sei seine große Liebe gewesen: "Ich war gerne mit ihr und sie auch gerne mit mir." Sogar Familienplanung sei bereits betrieben worden.

Nur ihre Abwesenheiten störten ihn, behauptet E. ernst. Denn die Frau musste immer wieder zu "Meetings" – die dauerten zwischen zwei und zwölf Stunden, manchmal kam sie mit Hämatomen oder Kratzspuren nach Hause. Als er nachfragte, habe sie ihm erzählt, dass ihre Arbeitgeber zur organisierten Kriminalität gehören würden und es Schwierigkeiten gegeben habe. Eigentlich dachte er, dass er sie im November überzeugt hatte, zu kündigen, und dass er für sie sorgen könne, die "Meetings" blieben aber. Damals zog sie zu ihm – von der 60.000 Euro hohen Hotelrechnung wurden tatsächlich nur 40.000 Euro beglichen, nicht ganz 20.000 Euro blieb sie schuldig.

Schwer erreichbare Partnerin

Er sei sogar mit ihr nach Riga geflogen. Dort sollte das Begräbnis des Großvaters stattfinden. Den Friedhof sah das Paar nicht. "Sie hat sich mit Freundinnen berauscht. Ich habe mir gedacht, vielleicht ist der Schmerz zu groß", erklärt E. dazu. Zwischen Jänner und Mai habe man sich nicht gesehen, sie vertröstete ihn mehrmals, sie komme in einer Woche wieder. Teilweise sei sie tage- und wochenweise nicht erreichbar gewesen, dann habe sie wieder geschrieben, sie liege in Warschau auf der Intensivstation, schildert der Angeklagte weiter. Als E. sie besuchen wollte, habe sie geantwortet, das sei unmöglich, da sie in Quarantäne sei. "Das ist Ihnen nicht komisch vorgekommen?", wundert sich der Vorsitzende. "Ich habe diese Frau von ganzem Herzen geliebt!", entgegnet der Angeklagte.

Das habe er ihr auch finanziell gezeigt. 30.000 Euro habe er ihr während der Beziehung überwiesen, weitere 30.000 Euro an Kosten in bar gezahlt. "Wir waren ja auch fort, in Nachtclubs, die 4.000 oder 5.000 Euro habe dann ich gezahlt, und sie hat gesagt, sie zahlt mir später etwas zurück", meint der Angeklagte. Die Stimmung sei gereizter geworden, einmal habe er sie bei einer Auseinandersetzung am Handgelenk leicht verletzt, gesteht E. ein. An eine Zukunft mit ihr glaubte er dennoch. Schließlich hatte sie ihm eröffnet, ein Stipendium an einer Londoner Filmakademie erhalten zu haben, im September wollte man gemeinsam in die britische Hauptstadt übersiedeln.

Etwa eine Woche vor dem angeklagten Vorfall, den die Medien im Sommer 2023 als "Horror-Fall" und "Martyrium" bezeichneten, habe er den wahren Beruf der 34-Jährigen erfahren. Er fand die Telefonnummer eines 35-jährigen Salzburger Unternehmers. E. rief den Mann an und fragte, ob er die Frau kenne. Tat er. Und zwar aus der Salzburger Dependance einer bundesweit aktiven Bordellkette.

Kennenlernen im Bordell

Kennengelernt hatte der Zeuge sie im Sommer 2022, wie er der Polizei sagte, im April 2023 habe man ihre Sachen aus dem Etablissement geholt und zu ihm gebracht, schilderte der Unternehmer. "Sie sagte, dass sie mich liebt, sie hat auch gekocht und geputzt, wenn ich zur Arbeit gegangen bin, wie in einer Beziehung", gab der Salzburger in seiner Einvernahme an. Im Mai sei sie dann nach Wien gefahren, zuerst tageweise, Ende Juni dann endgültig. Den Anruf des Angeklagten habe er zunächst "für einen Scherz gehalten", sich dann aber doch überzeugen lassen. Die 10.000 Euro, die er der Lettin für angeblich notwendige medizinische Eingriffe bei ihrer Schwester gegeben hat, fordert er aber nicht zurück.

Es kommt noch ein dritter Mann ins Spiel: Ein 28-jähriger selbstständiger Taxilenker lernte die 34-Jährige am 9. Juni als Passagierin kennen, es wurde mehr daraus. Sie erzählte ihm, sie sei gerade in der Trennungsphase vom Angeklagten, da dieser gewalttätig sei. Zum Beweis sandte sie ihm Bilder von Verletzungen an Armen und Beinen und sagte, die habe E. verursacht. Verteidigerin Stiglitz kontert allerdings: Sie legt dem Gericht Abbildungen aus dem Internet vor, die aus einem Lehrbuch über Hautverletzungen stammen. Sie sind identisch.

Am 9. Juli hatte der Taxifahrer ein Date mit ihr vereinbart, um 14 Uhr rief sie ihn an und sagte, sie hole noch ihre Sachen vom Angeklagten und melde sich in etwa 20 Minuten. Tat sie nicht. Um 22 und 23 Uhr habe er erfolgslos versucht, sie zu kontaktieren, erinnert sich der Zeuge. Schließlich rief er ihm die durch Screenshots bekannte Nummer des Angeklagten an, der hob ab und sagte, die Frau sei nicht bei ihm. "Das habe ich ihm geglaubt, daher habe ich auch nichts gemacht", sagt der Zeuge.

Angeklagter spricht von einvernehmlichen "Fesselspielen"

E. dagegen erzählt, die Frau sei am 9. Juli gegen 14.30 Uhr zu ihm in die Wohnung gekommen, habe wieder Verletzungen aufgewiesen und gesagt, diese würden von der Mafia stammen. Er habe ihr angeboten, sich bei ihm zu verstecken und auszukurieren, das habe man auch drei Tage lang gemacht. Gekommen sei sie mit einem unbeteiligten Taxi, er habe das nach ihrer Ankunft noch bezahlt und ihr Gepäck verstaut. Während ihres Aufenthalts sei es auch zu einvernehmlichem Geschlechtsverkehr gekommen.

Die Frau sagt, sie sei den ganzen Zeitraum in Embryonalstellung verschnürt im Bett gelegen und sei sogar gefesselt aufs WC getragen worden. Stimmt nicht, sagt der Bruder des Angeklagten als Zeuge. Er sei in den drei Tagen dreimal dort gewesen, die Frau habe sich frei in der Wohnung bewegt. Sie habe auch Zigaretten geraucht, die er mitgebracht hatte – was die Spurensicherung bestätigt hat.

Die auf Video vorgeführte kontradiktorische Einvernahme der Frau zeigt, dass sie ihre Geschichte nicht ganz stringent erzählen kann. Zeitabläufe stimmen nicht, Fragen, ob sie tatsächlich regelmäßig große Mengen Alkohol und Kokain konsumiert hat, beantwortet sie nicht, auf Fragen nach Geldbeträgen, die sie von anderen Männerbekanntschaften erhalten haben soll, macht sie von ihrem Recht, sich nicht selbst einer Straftat bezichtigen zu müssen, Gebrauch. Auch die bei ihr dokumentierten Verletzungen decken sich nicht mit ihren Schilderungen.

"Möglicherweise war ich eine Gefahr"

"Warum sollte sie die Frau zu Unrecht belasten?", will der Vorsitzende vom Angeklagten wissen. "Möglicherweise war ich eine Gefahr für ihr Liebesbetrugsgeschäft, sie hat mir auch Geld geschuldet", vermutet E. eine Verleumdung. Warum die Polizei sie weinend auf der Straße gefunden habe? "Ich denke, das war ihre Inszenierung, sie wollte das dramatisieren."

Der psychiatrische Gutachter Hofmann verweist in seiner Expertise darauf, dass E. seit 2014 mehrmals wegen paranoider Schizophrenie stationär im Spital war. Dass er im fraglichen Zeitraum aber einen akuten psychotischen Schub hatte, schließt er aus, der Angeklagte sei zurechnungsfähig gewesen. Ob E. gefährlich sei? Wenn er die angeklagten Taten begangen habe – was das Gericht beurteilen müsse – dann sei die Wiederholungsgefahr so hoch, dass eine Einweisung gerechtfertigt sei, lautet die diplomatische, aber für die Zuhörenden eher unbefriedigende Antwort. Hofmann gibt aber auf Nachfrage der Verteidigerin zu, dass E. neun Jahre lang unauffällig gewesen sei und eine derart "hochdramatische und tiefstsadistische Ersttat" höchst ungewöhnlich sei.

Die Berufs- und Laienrichter – zwei Männer, zwei Frauen – beraten rund eineinhalb Stunden, ehe das Urteil verkündet wird. Zum vom Vorsitzenden Huber streng gerügten Jubel der anwesenden Angehörigen und Freunde wird E. freigesprochen. In seiner Begründung stellt der Vorsitzende klar, dass man im Endeffekt an den Aussagen beider Seiten erhebliche Zweifel hatte. Damit könne man aber keine Verurteilung rechtfertigen. Die Angaben der Frau seien "in entscheidenden Fragen nicht nachvollziehbar" gewesen, mehrere Details hätten sich zu Zweifeln summiert. Dass sie ganz offenbar durch die Bank mehrere Männer schlicht angelogen habe, habe ihre Glaubwürdigkeit auch nicht erhöht.

Da die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft keine Erklärung abgibt, ist das Urteil nicht rechtskräftig. Eine Protokollabschrift der Verhandlung, um etwaige Ermittlungen wegen falscher Beweisaussage und Verleumdung gegen die Frau einzuleiten, hat Ivo allerdings bereits vor dem Urteil verlangt. (Michael Möseneder, 11.12.2023)