Bei den israelfeindlichen Demonstrationen in Wien stechen Personen aus antiimperialistischen, postkolonialen und queerfeministischen Gruppen immer wieder hervor: Ihre Reden sind radikaler als andere, ihre Wortwahl soll hauptsächlich emotionalisieren. Und sie betonen immer wieder die "österreichische Schuld". Am vergangenen Samstag stellte eine Rednerin namens Renate bei einer propalästinensischen Kundgebung vor der Wiener Oper die Frage: "Was können unschuldige Kinder" in Palästina dafür, was "vor 80 Jahren in Österreich" passiert ist. Zuvor sprach sie von einem "Holocaust unter freiem Himmel", der in Gaza stattfinde.

Einer weiteren Rednerin war es wichtig, den palästinensischen Botschafter in Österreich mit dem Satz zu zitieren: "Ihr könnt nicht eure schwarze Geschichte mit dem Blut unserer Kinder weißwaschen."

Rednerin Renate: "Was können unschuldige Kinder" in Palästina dafür, was "vor 80 Jahren in Österreich" passiert ist.

Das ist an jene gerichtet, die ihre Solidarität mit Israel auch mit der Verantwortung aus der NS-Geschichte begründen. In der Sichtweise der Demonstrierenden werde Israel hauptsächlich aufgrund der Verbrechen des Nationalsozialismus unterstützt, obwohl die Opfer von damals die Täter von heute seien. Das ist eine jener falschen Legenden, die seit Jahrzehnten bei Protesten gegen Israel zu hören sind.

Es ist eine Instrumentalisierung der Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden. Implizit geht damit der Vorwurf einher, dass Israel die Shoah zum eigenen Vorteil ausnutze. Dabei handelt es sich um eine altbekannte Erzählung, die seit Jahrzehnten in Wirtshäusern nach der Sonntagsmesse ebenso zu hören ist wie an Schulen oder auf Fußballplätzen.

Polizisten, Demonstrierende
Demonstration am vergangenen Samstag.
Foto: Sulzbacher

Laut der Antisemitismusstudie 2022 des österreichischen Parlaments finden 36 Prozent der Befragten die Aussage "Juden versuchen heute Vorteile daraus zu ziehen, dass sie während der Nazi-Zeit Opfer gewesen sind" zutreffend. In der Studie wird dies als "Schuldumkehr-Antisemitismus" bezeichnet.

Wenn von der "österreichischen Schuld" die Rede ist, dann kommt das bei einem nicht geringen Teil der Bevölkerung an. Es ist aber auch eine Erzählung, die verdecken soll, dass ein demokratischer Staat und dessen Bürgerinnen und Bürger am 7. Oktober von einer islamistischen Terrororganisation überfallen wurden und dies der Auslöser sowohl für die Unterstützung Israels als auch des Gazakriegs war.

Pro-Hamas-Sprechchöre

Die Hamas wird in Reden auf antiisraelischen Kundgebungen selten erwähnt, sie ist aber (mit)gemeint, wenn vom "Widerstand der Palästinenser" geredet wird. Und der wird gerne und oft erwähnt. Auf Kundgebungen waren Pro-Hamas-Sprechchöre zu hören ebenso wie Slogans, die zur Vernichtung Israels aufrufen. Seit die Polizei jedoch dagegen vorgeht, sind diese Parolen seltener zu hören. Ein Anmelder einer Demonstration bekam eine Geldstrafe, weil er nicht verhindert hatte, dass eine dieser Parolen skandiert wurde. Im Netz wird hingegen Propaganda der Hamas munter weiterverbreitet.

Wie zentral die Erzählung der "Schuld" für israelfeindliche Demonstrierende ist, zeigte sich schon wenige Tage nach dem Massaker der Hamas. Am 18. Oktober skandierten Hunderte vor dem Auswärtigen Amt in Berlin: "Free Palestine from German guilt" (deutsch: "Befreit Palästina von deutscher Schuld“).

Aus „Free Palestine from Austrian guilt", wurde "Free Palestine from Hamas."

In Wien haben Ende Oktober Unbekannte antisemitische Parolen auf dem Campus der Universität Wien gesprayt. „Free Palestine from Austrian guilt" war dort zu lesen, bis die Parole von offensichtlich antifaschistischen Aktivistinnen und Aktivisten übermalt wurde.

Rechtsextremer Kampfbegriff "Schuldkult"

Der Leitspruch, dass Palästina von österreichischer Schuld befreit werden müsse, ähnelt stark dem rechtsextremen Kampfbegriff "Schuldkult". Mit diesem bereits seit 1946 bekannten Propagandabegriff wird eine aufgeklärte Auseinandersetzung der österreichischen und deutschen Bevölkerung mit der Verbrechensgeschichte ihrer Vorfahren verächtlich gemacht. Die Verantwortung für den nationalsozialistischen Terror wird dadurch abgewehrt, unter diese müsse ein "Schlussstrich" gezogen werden.

Für die Antisemitismus-Forscherin Isolde Vogel gibt es zwar "differierende politische Motivationen und Zugehörigkeiten", das antisemitische Weltbild bleibt "aber immer das gleiche, ob es von Rechtsextremen, Islamisten, der gesellschaftlichen Mitte oder Linken" kommt. Unterschiede zeigen sich jedoch in der Äußerungsform von Antisemitismus, sagt Vogel im Gespräch. "Da ist in der Linken vor allem israelbezogener Antisemitismus zu finden, der aber beispielsweise über die 'Schuldkult'-Erzählung, dem Wunsch nach Tilgung historischer Schuld und Verantwortung, auch direkt an rechte Narrative anknüpfen kann."

Mann mit Anstecker auf der Jacke
Mann bei einer Kundgebung der Identitären und eines deutschen Rechtsextremen am 17. November vor der Wiener Universität.
Foto: STANDARD/AW

Die "Schuldkult"-Erzählung ist aktuell besonders oft von österreichischen Identitären zu hören. In deren Onlineplattform "Heimatkurier" war etwa am 30. Oktober zu lesen, die Israelitische Kultusgemeinde und deren Präsident Oskar Deutsch seien "vorne mit dabei, wenn es darum geht, den Österreichern Schuldkult aufzuzwingen. Dieser führt nachweislich zu Identitätsstörungen bei einheimischen Jugendlichen und verhindert einen positiven Bezug zur eigenen Identität." Die Erinnerung an die Opfer der Nationalsozialisten wird von den Rechtsextremen als "Störung" betrachtet.

Es ist bemerkenswert, dass Identitären-Anführer Martin Sellner sogar leichte Kritik an FPÖ-Parteichef Herbert Kickl äußerte, als dieser den 8. Mai, den Tag der Kapitulation Nazi-Deutschlands, als einen "Tag der Freude" bezeichnete. Sonst ist er stets voller Bewunderung für Kickl.

Nicht alle NS-Opfer sind als Opfer anerkannt

Die falsche Erzählung vom angeblichen "Schuldkult" oder der "Austrian guilt" ist besonders perfide. Nicht nur mit Blick auf die erwähnte Antisemitismusstudie. So waren die "Gründerväter" der Zweiten Republik so gut wie nicht daran interessiert, die in der NS-Zeit geschädigten Jüdinnen und Juden zu unterstützen oder den ihnen gestohlenen Besitz wieder zurückzugeben – bis heute müssen Opfer der Nazis und deren Nachkommen für die Rückgabe ihres Eigentums kämpfen. Personen, die von den Nazis als "Berufsverbrecher" in Konzentrationslager gesperrt wurden, sind bis heute in Österreich nicht als offizielle Opfergruppe anerkannt.

Einer der größten Justizskandale der Zweiten Republik war der Freispruch für den steirischen Großbauern und SS-Führer Franz Murer, bekannt unter dem Beinamen "Schlächter von Wilna". In Wilna, der heutigen litauischen Hauptstadt Vilnius, sollte Murer als Vertreter des Gebietskommissariats die "Judenfrage lösen". Unter seiner Zuständigkeit sank die jüdische Bevölkerung von 80.000 auf 600 Menschen. "Murer brauchte Blut, er musste Menschen ermorden", sagte eine Zeitzeugin. Bei seinem Prozess war die Beweislage erdrückend, dennoch wurde Murer unter Beifall freigesprochen.

Kinder, die von NS-Ärzten gepeinigt wurden, bekamen es als Erwachsene wieder mit diesen Männern zu tun

Zahlreiche andere NS-Verbrecher kamen völlig ungeschoren davon. In der Polizei, der Justiz und dem Bundesheer kamen ehemalige Nazis unter, ebenso in einer von der SPÖ geführten Regierung – wenn auch nur kurz. Mit der FPÖ konnte 1956 eine Partei gegründet werden, deren Spitzenpersonal hauptsächlich aus ehemaligen Nationalsozialisten und SS-Männern bestand. Kinder, die von NS-Ärzten gepeinigt wurden, bekamen es als Erwachsene wieder mit diesen Männern zu tun, da sie nach 1945 als Gerichtspsychiater tätig sein konnten.

Von offizieller Seite wurde erst im Jahr 1991 die Lüge aufgegeben, Österreich sei das erste Opfer Hitlers gewesen. Damals übernahm SPÖ-Bundeskanzler Franz Vranitzky vor dem österreichischen Nationalrat eine "moralische Mitverantwortung" Österreichs für die unter Beteiligung zahlreicher Österreicherinnen und Österreicher begangenen Verbrechen während der NS-Zeit. Zwei Jahre später fand der erste Staatsbesuch eines österreichischen Bundeskanzlers in Israel statt. (Markus Sulzbacher, 14.12.2023)