In 55 Fällen war eine Intervention bzw. Aufarbeitung nötig.
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Die Geschichte der Nicola Werdenigg schafft es auf die Leinwand. Am 24. Jänner feiert der von Antonin Svoboda produzierte Film Persona non grata im Wiener Gartenbaukino seine Premiere. Im November 2017 hatte die ehemalige Skirennläuferin im STANDARD Übergriffe von Trainern, Betreuern und Kollegen im Skizirkus der Siebzigerjahre thematisiert. Eine Folgewirkung der Schockwelle war die Einrichtung von Vera* Ende 2022. Nun zieht die Vertrauensstelle gegen Belästigung und Gewalt in Kunst, Kultur und Sport erste Bilanz in Sachen Sport. Und lässt dabei mit einer hohen Zahl an Meldungen aufhorchen.

Wie sehen diese Zahlen konkret aus? In 55 Fällen war eine Intervention bzw. Aufarbeitung durch die mit Bundesmitteln geförderte Vertrauensstelle notwendig. Die Übergriffe – Mehrfachnennungen waren möglich – fanden im Training (29), im Wettkampf (15), an der Sportstätte (11) und bei Übernachtungssituationen (12) statt. Gerade Trainingslager mit Übernachtungen bergen ein erhöhtes Potenzial für schwere Übergriffe.

Keine Lappalien

"Kinder und Jugendliche sind unter der Obhut von Erwachsenen, weit weg von zu Hause. Alkohol spielt eine Rolle", sagt Claudia Koller im Gespräch mit dem STANDARD. Koller ist Geschäftsführerin von Vera* Sport und zeigt sich ob der veröffentlichten Zahlen nicht überrascht: "Es war erwartbar, dass es viele Fälle geben wird. Wir sind froh, dass unser Angebot angenommen wird. Der Leidensdruck ist hoch, wenn sich jemand meldet. Da geht es nicht um Lappalien."

Claudia Koller zieht nach einem Jahr Bilanz. Das Angebot von Vera* wird angenommen.
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Noch mehr Zahlen: In 31 Fällen handelte es sich um sexualisierte Gewalt, dazu kommen körperliche Gewalt (10), seelische Gewalt (24) und Vernachlässigung (2). Auch hier war eine Mehrfachnennung durch die Befragten möglich, Gewaltformen treten selten isoliert auf. "Gewalt ist für die Betroffenen oft schwer fassbar, wir helfen, zunächst die Situation einzuordnen", sagt Koller. Immer wieder stellt sich die Frage nach den Grenzen.

Beim sogenannten Grooming erschleichen sich Täter stufenweise das Vertrauen. Vermeintlich unabsichtliche Berührungen. Nachrichten, die zunächst nur Trainingsbezug haben, dann aber in einen sexualisierten Kontext geraten. Irgendwann merken Betroffene, dass ihnen die Situation unangenehm ist. Koller: "Aber dann geben sie sich vielleicht schon selbst die Schuld. Es ist ein perfides Vorgehen."

Aber sprechen wir hier von strafrechtlich relevanten Vorfällen? "In einigen Fällen ist klar strafrechtliche Relevanz vorgelegen", sagt Koller, "aber der Sport muss den Anspruch haben, vor dem Strafrecht anzusetzen und verhältnismäßig, aber deutlich einzuschreiten." Es geht um Belästigung, sexualisierte Witze und diskriminierende Sprüche. "Das alles hat in einem Autoritätsverhältnis nichts verloren."

Jeder gemeldete Fall erfordert von der Vertrauensstelle volle Aufmerksamkeit. "Die Komplexität der Fälle ist enorm. Es dauert daher oft lange, bis ein Fall abgeschlossen ist", so Koller. "Betroffene wünschen sich nachhaltige Veränderung. Es reicht nicht, sie an eine psychosoziale Einrichtung weiterzuleiten, und die übergriffigen Personen bleiben in ihrer Rolle. Das wäre für uns und die Betroffenen frustrierend."

Viel Arbeit

Aber ist dieser Aufwand zu bewältigen? Für die Fallarbeit stehen zwei Fachkräfte in Teilzeitanstellung zur Verfügung. Das ist etwas eng. "Wir haben für 2024 mehr Mittel zugesichert bekommen", sagt Koller, "jedes Kind soll im Sportverein einen geschützten Rahmen vorfinden. Und es muss, wenn etwas vorfällt, immer Ansprechpersonen geben. Es darf nicht passieren, dass Fälle aufgrund von Ressourcenknappheit liegenbleiben." (Philip Bauer, 13.12.2023)