Ein Begräbnis in Khan Younis im Süden des Gazastreifens vergangene Woche
Ein Begräbnis in Khan Younis im Süden des Gazastreifens vergangene Woche. Das von der Hamas kontrollierte Gesundheitsministerium in Gaza zählte seit 7. Oktober bereits rund 19.000 Tote, doch kann man den Zahlen trauen?
REUTERS/IBRAHEEM ABU MUSTAFA

Seit Beginn des Gaza-Kriegs – Israels Reaktion auf den Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober mit mehr als 1.200 Toten und der Verschleppung von über 200 Personen – werden rasant steigende Totenzahlen aus dem Gazastreifen gemeldet. Tagtäglich zeigen neue Bilder über Leichensäcke gebeugte Angehörige.

Immer wieder wird in Kommentaren und sozialen Netzwerken die Echtheit dieser Angaben und Bilder in Zweifel gezogen. Immerhin werden die Behörden vom politischen Arm der im Gazastreifen herrschenden Hamas kontrolliert, die seit Jahren in Israel und im Westen als Terrororganisation eingestuft wird.

Die Angaben von Kriegsparteien können zu Kriegszeiten kaum unabhängig überprüft werden. Und doch gibt es gute Gründe, die für die Plausibilität der Todeszahlen aus dem Gazastreifen sprechen.

Wie wird gezählt?

In den ersten sechs Wochen des Krieges übermittelten die Leichenhallen der Krankenhäuser im Gazastreifen die Zahlen an die zentrale Sammelstelle des Gesundheitsministeriums im Al-Shifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt. Dort wurden die Daten aller Opfer in einem Computersystem gesammelt. Die Beamten verwendeten Excel-Tabellen, um Namen, Alter und Ausweisnummern der Toten zu erfassen, und übermittelten diese an das palästinensische Gesundheitsministerium in Ramallah, das zur Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) gehört, die im von Israel besetzten Westjordanland eine begrenzte Selbstverwaltung ausübt. Über jeden Verwundeten, der ein Bett belegt, seien Aufzeichnungen geführt worden – und über jede Leiche, die angeliefert wird.

Omar Hussein Ali, Leiter des Notfallzentrums des Gesundheitsministeriums in Ramallah, sagte der Nachrichtenagentur Reuters allerdings vergangene Woche, dass von den vier Beamten, die das Shifa-Datenzentrum leiteten, einer bei einem Luftangriff auf das Krankenhaus getötet wurde. Die anderen drei gelten seit dem Armeeeinsatz Israels in dem Krankenhaus als vermisst. Seither werden die Berichte über die Opferzahlen nicht mehr täglich, sondern unregelmäßig veröffentlicht. "Es wird immer schwieriger für sie", sagt Richard Peeperkorn, WHO-Vertreter in den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten. Es sei "ein schreckliches Zeichen", wenn man an einen Punkt komme, an dem es noch nicht einmal ein Sterberegister gebe, sagt Nathaniel Raymond, Exekutivdirektor des Humanitarian Research Lab an der Yale School of Public Health, der sich seit mehr als 20 Jahren mit der Zahl der Todesopfer in bewaffneten Konflikten und Naturkatastrophen beschäftigt. "Das allein zeigt uns Entwicklungshelfern, dass es sich um ein Worst-Case-Szenario handelt." Viel deutet also eher auf eine Unter- als eine Überschätzung der Zahlen hin.

Warum wird gezweifelt?

Die Zahlen unterscheiden nicht zwischen Kämpfern und Zivilisten und können unabhängig nicht überprüft werden. Zweifel kamen vor allem nach dem Vorfall rund um das Al-Ahli-Spital im Gazastreifen auf, das Mitte Oktober getroffen wurde. Innerhalb einer Stunde meldete das Gaza-Ministerium damals 500 getötete Palästinenser, senkte den Wert am nächsten Tag auf 471 und sprach von 342 Verletzten. Israel sprach von einer fehlgeleiteten Rakete des "Islamischen Jihad" und zweifelte daran, dass so unmittelbar nach der Explosion bereits so viele Tote klar sein könnten. US-Geheimdienste gehen von 100 bis 300 Toten aus, gaben jedoch nicht an, wie die Zahl ermittelt wurde.

Ende November erklärte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, dass die Explosion wohl durch eine fehlgeleitete palästinensische Rakete ausgelöst wurde. Die Erkenntnisse beruhen HRW zufolge auf der Auswertung von Fotos, Videos, Satellitenbildern sowie Interviews mit Zeugen und Experten. Die Opferzahl des Hamas-Ministeriums konnte die Organisation nicht bestätigen, wies aber auf ein ungewöhnlich hohes Verhältnis zwischen Toten und Verletzten hin und erklärte, dass diese "in keinem Verhältnis zu den vor Ort sichtbaren Schäden stehen". Seither gab es im Gaza-Krieg keine ähnliche Kontroverse mehr um möglicherweise zu hohe Opferzahlen.

Was sagen Fachleute?

Vergangene Woche wurde nun in der Fachzeitschrift "The Lancet" eine Untersuchung dazu veröffentlicht, der zufolge es keine Anzeichen gebe, dass Toten- oder Verletztenzahlen vom Gesundheitsministerium in Gaza aufgebauscht werden. Dabei wurden im Zeitraum vom 7. Oktober bis 10. November die vom Ministerium gemeldeten Todesfälle mit der vom UN-Palästinenserhilfswerks (UNRWA) geführten Statistik getöteter UNRWA-Mitarbeiter verglichen. Die vom Hamas-Ministerium gemeldete Todesrate liegt demnach bei 5,3, jene von UNRWA bei 7,8 pro 1.000 Einwohner. Dass die Ministeriumsrate aufgebauscht ist, also das Sterberisiko für UNRWA-Mitarbeiter noch höher über jener der Palästinenser liegt als in dieser Rechnung, ist der Studie zufolge unwahrscheinlich, da viele Todesfälle von UNRWA-Mitarbeitern zu Hause oder in Gebieten mit hoher Zivilbevölkerung, wie etwa in Schulen oder Schutzräumen, auftreten.

Eine weitere Forschungsgruppe hat in "The Lancet" einen Blick auf die grundsätzliche Plausibilität der Daten geworfen, also zum Beispiel, ob gemeldete Identifikationsnummern und das Alter der Toten einem zufälligen Muster entsprechen oder ob auffällige Häufungen auftreten. Zusätzlich sah sich die Gruppe an, wie sich die Mortalität in Gaza mit früheren Jahren vergleichen lässt. Auch sie stellen in den Daten "keine offensichtlichen Fälschungen" fest. "Wir halten es für unplausibel, dass diese Muster bei gefälschten Daten auftreten würden", vermerkten sie.

Die Vereinten Nationen und andere internationale Institutionen und Fachleute haben bereits in den ersten Tagen und Wochen nach Kriegsbeginn erklärt, dass sie die vom Gesundheitsministerium übermittelten Daten grundsätzlich für weitgehend korrekt halten. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch erklärte, dass die Opferzahlen im Allgemeinen zuverlässig seien und dass sie bei der Überprüfung früherer Angriffe auf Gaza keine großen Diskrepanzen festgestellt habe. "Es ist erwähnenswert, dass die Zahlen, die seit dem 7. Oktober veröffentlicht wurden, im Allgemeinen konsistent sind oder sich im Rahmen der Logik für das Ausmaß der Tötungen befinden, die man angesichts der Intensität der Bombardierung in einem so dicht besiedelten Gebiet erwarten würde", sagte Omar Shakir, Direktor für Israel und Palästina bei der Organisation, der Nachrichtenagentur Reuters Ende Oktober. Sie stimmten mit dem überein, was durch Zeugenaussagen, Satellitenbilder und andere Methoden ermittelt werde.

"Die Zahlen sind von Minute zu Minute möglicherweise nicht ganz genau", hieß es etwa von Michael Ryan vom Programm für gesundheitliche Notfälle der Weltgesundheitsorganisation (WHO). "Aber sie spiegeln weitgehend das Ausmaß an Todesfällen und Verletzungen wider." In früheren Kriegen oder Waffengängen wurden die Zählungen des Ministeriums durch die UN, unabhängige Untersuchungen und sogar israelische Behörden bestätigt. Auch Richard Peeperkorn von der WHO erklärte am Dienstag, die von den palästinensischen Behörden genannten Toten- und Verletztenzahlen für verlässlich zu halten. Die Opferzahlen seien in früheren Konflikten eher unter- als überschätzt worden.

Von einer möglichen Unterschätzung sprach ein Sprecher des UN-Menschenrechtsbüros vergangene Woche auch gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters: "Unsere Beobachtungen deuten darauf hin, dass die Zahlen des Gesundheitsministeriums möglicherweise zu niedrig angesetzt sind, da sie keine Todesopfer enthalten, die die Krankenhäuser nicht erreicht haben oder möglicherweise unter den Trümmern verschollen sind." Auch Nathaniel Raymond von der Yale Universität bezeichnete es als "logische Annahme, dass die gemeldeten Zahlen unterschätzt werden und zu niedrig sind".

Was sagt Israel?

Ein israelischer Militärvertreter sprach Anfang vergangener Woche bei einem Pressebriefing von etwa 5.000 getöteten Hamas-Kämpfern und einem Verhältnis von 1:2, also doppelt so vielen getöteten Zivilisten. "Ich sage nicht, dass es nicht schlimm ist, dass wir ein Verhältnis von zwei zu eins haben", sagte er und fügte hinzu, dass der Einsatz von Zivilisten als menschliche Schutzschilde Teil der "Kernstrategie" der Hamas sei. "Hoffentlich wird [die Quote] in der kommenden Phase des Krieges viel niedriger sein." Das von der Hamas geführte Gesundheitsministerium hatte an diesem Tag von fast 15.900 Toten gesprochen. Der anonyme israelische Militärvertreter bezeichnete die Zahlen aus Gaza als "mehr oder weniger" korrekt. (Noura Maan, Flora Mory, 15.12.2023)