Wien – Dort, wo viele Jahre lang Geschichten über das Leben geschrieben wurden, stehen nur noch Kisten, gerahmte Coverfotos, Möbel und ein paar Bücher. Zur Abholung bereit. Das war auch "Biber", 16 Jahre lang in Geschäften oder Lokalen. Irgendwo mittendrin im Ausräumchaos vereinsamt ein Pokal. Er ist wohl ein Zeugnis der zahlreichen Auszeichnungen, die das Medium und seine Journalistinnen und Journalisten in den vergangenen Jahren erhalten haben. "Wir sind dann mal weg. Hvala & Selam" steht auf dem Cover der letzten Ausgabe, die am Samstag erscheint. Nach 16 Jahren verabschiedet sich das Wiener Gratismagazin "Biber" von seinen Leserinnen und Lesern und damit auch von seinem Quartier im Wiener Museumsquartier.

Die letzte
Die letzte "Biber"-Ausgabe.
Biber

16 Jahre in einem Heft

Die Gründe für die Einstellung sind – wie berichtet – sinkende Werbeerlöse bei gleichzeitig steigenden Kosten. Das Magazin richtete sich vor allem an Zugewanderte der zweiten und dritten Generation, die schon hier geboren und aufgewachsen sind. Das letzte Heft soll all das repräsentieren, wofür "Biber" steht, sagt Aleksandra Tulej, die Chefredakteurin des Magazins, zum STANDARD. 16 Jahre Journalismus in eine Best-of-Ausgabe zu gießen sei schwer gewesen. "Wir haben 'Biber' gelebt." Herausgekommen ist ein Sammelsurium an lesenswerten Erklärungen, Abschiedsworten und persönlichen Texten darüber, wie "Biber" gegründet wurde oder wie es gelungen ist, an Geschichten zu kommen, zu denen andere Medien keinen Zugang hatten.

"Biber"-Chefredakteurin Aleksandra Tulej. Die Kisten sind gepackt. Das Büro im Wiener Museumsquartiert wird aufgelassen.
Oliver Mark

Heinz Fischer war siebenmal verliebt

Populär war etwa das Format "Interview in Zahlen", wo der damalige Bundespräsident Heinz Fischer im Jahr 2015 verriet, dass er in seinem Leben siebenmal verliebt war, und zahlreiche Politikerinnen und Politiker berufliche und private Fragen auf eine Zahl reduzieren ließen. Sogar der damalige FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache ließ sich interviewen. Er gab im Jahr 2014 etwa an, dass er 2040 sicher nicht mehr in der Politik sein werde, eine Rolex um 7.000 Euro trägt oder fünf muslimische Freunde hat. Nur Herbert Kickl wollte nicht mitmachen, sagt Tulej.

Sex im Islam als Aufreger

Zu den Texten der letzten Ausgabe gehört beispielsweise auch jener über Sex im Islam, den im Jahr 2010 die jetzige "Profil"-Chefredakteurin Anna Thalhammer geschrieben hatte. Der Artikel sei bis heute der meistgeklickte Beitrag auf dasbiber.at, erklärt Tulej. Damals habe es Drohungen von Salafisten gegeben, und auf Anraten des Verfassungsschutzes wurde eine Sicherheitstüre eingebaut. In dem Artikel erzählten junge Muslime über ihre sexuellen Bedürfnisse – zwischen Schuld und Sühne.

Von der Idee zum Heft

Im Heft findet sich auch ein Artikel, in dem "Biber"-Gründer Simon Kravagna erklärt, wie im Jahr 2006 alles begann. "Es gab in Wahrheit gar nichts: keine Redaktion, kein Geld, kein Produkt. Es gab nur eine Idee. Die Idee für ein Medium, das von Journalist:innen gestaltet wird, die Wiens viele Sprachen sprechen – und verstehen", schreibt Kravagna, der zur Zeit der Gründung Innenpolitikjournalist des "Kurier" war. Er führte "Biber" als Chefredakteur und Herausgeber mehr als zehn Jahre, bis er 2019 als Geschäftsführer zum forum journalismus und medien (fjum) wechselte. Kravagna rekrutierte die ersten Journalistinnen und Journalisten für die "neue Wiener Multi-Kulti-Stadtzeitung" noch mittels Aushang in Lokalen und auf Unis.

Auch Ex-Kanzler Sebastian Kurz kommt in der letzten Ausgabe vor, weil er 2011 einen Kebapstand besuchte und hinter der Dönerbude für ein Foto posierte. "Das würde er heute wohl nicht mehr machen", sagt Tulej. Damals kostete ein Döner Kebap übrigens 2,50 Euro.

In den Communitys verankert

"Unser größtes Asset ist unser riesiges Netzwerk an Menschen aus den verschiedenen Mikrocommunitys in Wien", sagt Tulej. "Wann immer etwas los war, hatten wir die Kontakte." Sie habe von Leuten oft zu hören bekommen, dass sie nicht mit Journalisten sprächen, sondern nur mit "Biber": "Von damals kriminellen Jugendlichen bis zu IS-Aussteigern oder tschetschenischen Sittenwächtern." "Biber" hatte jene Geschichten zuerst, die andere Medien später aufgriffen, so Tulej. Es sei nicht schwer gewesen, die Themen zu finden. "Das ist unser Umfeld."

Über das "Newcomer"-Projekt habe es die Möglichkeit gegeben, mit Schülerinnen und Schülern zu sprechen. Man habe mit ihnen gesprochen und nicht über sie, das unterscheide "Biber" von vielen anderen Medien. "So sind die besten Geschichten entstanden." Die gebürtige Polin ist bereits seit vielen Jahren bei "Biber". Nach Stationen als Chefreporterin und Chefin vom Dienst avancierte sie im Herbst 2022 zur Chefredakteurin.

Lücken in der Medienlandschaft

Das "Biber"-Aus schmerze sehr, sagt Tulej. Eine Erfolgsgeschichte gehe zu Ende. Ein Trost sei, dass "fast alle Journalistinnen und Journalisten mit Migrationshintergrund" irgendwann einmal etwas mit "Biber" zu tun hatten – beispielsweise über die "Biber"-Akademie, die journalistische Ausbildungsschiene des Mediums. "Darauf bin ich am meisten stolz." Von Normalität als Spiegel der Gesellschaft seien Redaktionen in Österreich aber noch ein Stück weit weg, so Tulej. Auch deswegen bedauert sie das Ende des Magazins sehr. "'Biber' wird in der Medienlandschaft eine Lücke hinterlassen."

Nie reguläre Presseförderung

Biber bedeutet auf Türkisch "Pfefferoni" und auf Serbokroatisch "Pfeffer", die letzte Ausgabe des Magazins erscheint mit einer Auflage von 85.000 Stück. Für "Biber" arbeiteten zuletzt fünf angestellte Journalistinnen und Journalisten. 30 Freie hätten in den letzten Jahren mehr oder regelmäßig für das Magazin geschrieben, so Tulej. "Biber" hat zwar regelmäßig mit außergewöhnlichen Geschichten für Furore gesorgt, aber nie reguläre Presseförderung bekommen. Mit Projektförderungen – etwa der Akademie –, Inseraten und Kooperationen ist es sich gerade so ausgegangen, über die Runden zu kommen. Beim Ende schwingt auch Tragik mit. Durch die Reform der türkis-grünen Regierung hätte das Medium erstmals Anspruch auf Medienförderung gehabt. Zu spät.

Sittenwächter und Islam-Kindergärten

Die Geschichte, die für Aleksandra Tulej am prägendsten war, ist jene über die tschetschenischen Sittenwächter im Jahr 2020. "Ich habe mich damals gefragt, warum zur Hölle redet niemand mit den Frauen, die betroffen sind? Dann habe ich es gemacht, weil 'Biber' den Zugang hatte." Mit den Frauen habe sie heute noch Kontakt, obwohl diese Community sehr verschlossen lebe. Der Text habe hohe Wellen geschlagen. Ebenso wie eine Reportage über vermeintlich radikale Islam-Kindergärten, die "Biber" im Jahr 2016 undercover recherchiert hatte, oder jene über die Generation Haram von Melisa Erkurt über muslimische Teenager, die Verbotspolizei spielen und entscheiden, was Sünde ist und was nicht.

Morddrohungen

"Ich war nie ein Fan von diesen Wohlfühlgeschichten", sagt Tulej. "Wir haben unsere Communitys kritisiert." Tulej hat Morddrohungen von polnischen Nationalisten bekommen, weil sie mit der polnischen Regierung hart ins Gericht gegangen sei, erzählt sie. "Wir haben uns doppelt angreifbar gemacht." Die Attacken seien sowohl von den österreichischen Rassisten gekommen als auch von den eigenen Communitys. "Das hat mich nur noch mehr motiviert."

Wie es nach dem "Biber"-Ende für Tulej und das Team weitergeht, kann sie nicht sagen. Nur so viel: Sie ist in den Journalismus gekommen, um zu bleiben. Eine "Biber"-Auferstehung oder eine Reinkarnation in anderer Form ist nicht ganz ausgeschlossen. Ob das gelingt und wie sie sich materialisieren könnte, bleibt abzuwarten. Die Hoffnung auf "Journalismus mit Scharf" lebt jedenfalls. (Oliver Mark, 16.12.2023)

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Gratismagazin "Biber" wird eingestellt - Das Aus kommt wegen geringer Werbeerlöse und gestiegener Kosten. Fünf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind betroffen

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dasbiber.at