Klimakleber vor Parlament
Die Aktionen der "Klimakleber" rufen hitzige Debatten hervor. Zwar ist die Polarisierung im Feld des Klimawandels zuletzt gestiegen, bleibt aber in moderatem Rahmen.
IMAGO/Andreas Stroh

In den sozialen Medien fliegen verlässlich die Fetzen. Egal ob es um den Krieg im Nahen Osten, Sozialleistungen für Asylwerber, Corona-Maßnahmen oder das Gendersternchen geht: Shitstorms, Hasspostings und schrille Verbalattacken sind aus rezenten politischen Diskussionen nicht mehr wegzudenken. Populistische und rechtsextreme Parteien sind im Aufwind, und auf den Straßen prallen die gegensätzlichen Haltungen von radikalen Klimaaktivisten und entnervten Autofahrerinnen aufeinander. Zur Erklärung dieser Phänomene liegt eine Diagnose nahe, vor denen auch in Zeitungskommentaren gerne gewarnt wird: Die Gesellschaft sei gespalten wie selten zuvor, eine unversöhnliche Polarisierung durchdringe die Gesellschaft.

Allein die Daten sprechen eine weitgehend andere Sprache. Das geht aus Analysen hervor, die der Soziologe Thomas Lux von der Berliner Humboldt-Universität und die Sozialforscherin Martina Zandonella vom österreichischen Meinungsforschungsinstitut Foresight (früherer Name: Sora) am Freitag präsentiert haben. Beide stützen sich auf mehrere Quellen mit langfristigen statistischen Erhebungen der Einstellungen der Bevölkerung, wie etwa den European Social Survey und den Demokratiemonitor. In Deutschland wurde zudem im Jahr 2022 eine großangelegte telefonische Umfrage durchgeführt und Diskussionen aus Fokusgruppen mit qualitativen Methoden untersucht.

Zum Teil abnehmende Polarisierung

Für Deutschland ergibt sich laut dem Soziologen Lux ein klarer empirischer Befund: "Es gab in den vergangenen dreißig Jahren keine zunehmende Polarisierung." Bei manchen Konfliktfeldern seien die Konfliktfronten in dem Zeitraum gleich stark geblieben, in anderen Bereichen habe sogar eine Entwicklung zu mehr Einigkeit stattgefunden. Letzteres gelte insbesondere für grundlegende Fragen von Geschlecht und Sexualität, wo in vergangenen Jahrzehnten eine "stille Revolution" Richtung mehr Liberalität festzumachen sei, wie Lux es formulierte.

Auch in Österreich zeigt sich dieser Trend. Die Aussage, es solle "Schwulen und Lesben freigestellt sein, ihr Leben so zu leben, wie sie es wollen", teilen mittlerweile rund 90 Prozent, 2006 waren es erst 70 Prozent. Der analogen Aussage über Transfrauen und Transmänner stimmen aktuell immerhin 77 Prozent zu, auch hier ist der Konsens größer als manch hitziges Gefecht vermuten lässt.

Aus der Harmonie bei derart grundsätzlichen Bewertungen lässt sich nicht folgern, dass über die konkrete Umsetzung und Maßnahmen kein Streit erwachsen kann. Erheblicher Dissens besteht unter Befürwortern der Gleichberechtigung etwa in der Frage der Geschlechterquoten oder der sprachlichen Vorgaben zum Gendern. Soziologe Lux, der darüber jüngst ein gleichnamiges Buch veröffentlicht hat (mit Steffen Mau und Linus Westheuser), spricht in dem Zusammenhang von "Triggerpunkten": Das sind Reizthemen, an denen sich die Emotionen schnell derart hochschaukeln, dass im Eifer dann jeglicher überwölbende Konsens in den Hintergrund gerät. Dadurch entstehe der mitunter trügerische Eindruck unüberbrückbar verfeindeter Lager, obwohl eigentlich reichlich gemeinsamer Boden für Kompromisse da wäre.

Dissens bei Migration erheblich und konstant

Eine hierzulande konstant schwach ausgeprägte Polarisierung macht die Sozialforscherin Zandonella auch bei den Grundeinstellungen der Österreicher zu sozialstaatlicher Umverteilung fest. Dass der Staat Maßnahmen ergreifen soll, um Einkommensunterschiede zu verringern, unterstützen in den vergangenen zwei Jahrzehnten stets circa zwei Drittel bis drei Viertel der Befragten. Bei diesen Werten gibt es auch keine Spaltungstendenzen nach Geschlecht, Alter, Wohnort oder Jobprofil – unter Geringverdienern ist die Zustimmung zu Umverteilung freilich etwas stärker als bei Wohlhabenderen.

Einen stärkeren Meinungskonflikt zeigen die Daten hingegen beim Thema Zuwanderung. Das allerdings seit 2006 in ziemlich konstantem Ausmaß, was auch bedeutet: Es gibt keine sichtliche Auswirkung der 2015 kulminierenden Fluchtbewegung und der damit stark gestiegenen Zahl an Asylwerbern. Bei dem Thema kristallisieren sich allerdings signifikante Einstellungskonflikte zwischen sozioökonomischen Milieus heraus: So stimmen 67 Prozent der Produktionsarbeiterschaft der Aussage zu, dass "Zuwanderer nur nach Österreich kommen, um den Sozialstaat auszunutzen" – unter den Selbstständigen und höheren Angestellten in soziokulturellen Branchen stimmen dem mit 44 und 51 Prozent deutlich weniger zu.

Insgesamt ist aber auch beim Migrationsthema die Spaltung nach sozialen Milieus nicht sonderlich drastisch, während es eine große Kluft durch die Anhängerschaft der Parteien schlägt. Wenig überraschend haben FPÖ-Wählerinnen hier diametral andere Einstellungen als Grünen-Wähler.

Triggerpunkte nicht aufblähen

Im Bereich der Klimapolitik können die Daten auch so manchem liebgewonnenen Klischee die Spitze nehmen. Weit zu pauschal ist etwa Vorstellung, dass sich vor allem die junge, urbane Akademikerschicht der Sorge um das Klima verschrieben hat, während es die Alten auf dem Land unberührt lässt. Zwar steigt die Sorge um das Klima mit der formalen Bildung, aber weder zwischen Land und Stadt noch zwischen Männern und Frauen gibt es eine Kluft. Zudem fühlen sich laut der Foresight-Erhebung Ältere sogar stärker für die Reduktion der Klimaerwärmung verantwortlich als die unter 30-Jährigen. Insgesamt hat im Zuge der breiten medialen Präsenz von Klimathemen die Polarisierung von Meinungen in der jüngsten Vergangenheit etwas zugenommen – sie bleibt aber in moderatem Rahmen.

Für das deutsch-österreichische Forscherduo halten die Erkenntnisse auch eine Lehre für die Zukunft gesellschaftlicher Diskurse bereit: Man müsse jene politischen "Polarisierungsunternehmer" in die Schranken weisen, die ihr Geschäft mit der Aufblähung von Triggerpunkten bestreiten. Stattdessen solle man sich auch bei emotionalen Themen immer wieder einmal auf die gemeinsamen Haltungen besinnen. (Theo Anders, 15.12.2023)