Natasche Wodin
Wille zur Aufarbeitung der Ängste: Natascha Wodin.
ulius Schrank / Ag

In diesen Geschichten wimmelt es von Dämonen und Gespenstern, von Entrechteten und Einsamen, von Verstoßenen und Verlorenen. Sie alle haben keinen Platz in einer Welt, die nach Normalität und Anpassung giert und sich abmüht. Da ist Frau Meisinger, die in einem wohlhabenden Münchner Vorort in der Nachkriegszeit ihrem Ende entgegensiecht, ohne dass man als Leser erfährt, welches Schicksal sie in eine derart abgrundtiefe Verwahrlosung getrieben hat, die auch ihren Garten in ein wildwucherndes Urviech verwandelt hat, das sich in die akkurat behegten Grundstücke der Nachbarn hineinfrisst.

Traumata und Verletzungen

In dem dunklen Geheimnis dieser Frau scheint sich der Unwille der deutschen Gesellschaft zu spiegeln, sich mit den Verbrechen der Nazizeit auseinanderzusetzen, mit den Traumata und Verletzungen, die in die Gesellschaft wie ein schwarzes Gift diffundieren, das Biografien und Leben vergiftet, Menschen deformiert und verfaulen lässt.

Und da ist Heiner, der in einer geschlossenen Anstalt dahinvegetiert, der eine innige Beziehung zur Musik Schuberts hat und zu dem die Erzählerin eine Art Liebesbeziehung aufbaut, indem sich die beiden von der Welt Verstoßenen Briefe schreiben und hoffen, sich gegenseitig erlösen, ja, retten zu können. "Ausgerechnet er sollte mich retten vor meiner Einsamkeit, vor der Brutalität eines einsamen, hoffnungslosen Alters, vor einem einsamen, qualvollen Tod. In meinem alltäglichen Angst- und Einsamkeitselend war ich zuweilen schon fast so weit gewesen."

Übermaß an Gewalt

All diese kranken und kaputten Figuren nehmen ihren Ursprung in der eigenen Lebensgeschichte Natascha Wodins, die als Kind russisch-ukrainischer Zwangsarbeiter in der BRD aufwuchs, sie entstehen oder besser: sie wuchern aus ihr und verbinden sich mit ihr wie das urwüchsige Gesträuch in Frau Meisingers Garten. Denn, so heißt es an einer Stelle im Buch: "... so wusste man von den Kindern und Kindeskindern der einstigen Arbeitssklaven in Deutschland überhaupt nichts mehr, sie existierten gar nicht im Bewusstsein ihrer Außenwelt."

Wodins Mutter, die aus Mariupol stammt und deren Lebensgeschichte sie in dem Bestseller von 2018 nachspürte, nimmt sich das Leben, aus Verzweiflung, wegen einer tiefen Verletztheit, die die Unmenschlichkeiten des 20. Jahrhunderts, Massenmord und Terror, in sie geritzt haben.

Vernichtungsmaschinen

"Meine Mutter hatte ein solches Übermaß an Gewalt und Zerstörung erfahren, sie war in so viele Vernichtungsmaschinen des zwanzigsten Jahrhunderts geraten, zuletzt in ein deutsches Zwangsarbeiterlager und schließlich in eine derart finstere Perspektivlosigkeit, dass man keine geisteskranke Tante herbeizitieren musste, um die Verstörtheit meiner Mutter zu erklären, ihr immer tieferes Versinken in Melancholie, ihr zunehmendes Verstummen und schließlich ihren Selbstmord."

Sie geht in die Regnitz, einen Nebenfluss des Main, als dieser infolge einer Überschwemmung aus seinem Bett tritt und sich unaufhaltsam in die Landschaft schiebt und sie verändert, "zur Begeisterung von uns Kindern, den multiethnischen, gettoisierten Nachkommen der einstigen Arbeitssklaven". Mit dem Selbstmord der Mutter beginnt Wodins Sammlung von fünf Erzählungen, die teilweise älteren Datums sind, die die Schriftstellerin überarbeitet hat und die nun unter dem Titel Der Fluss und das Meer erschienen sind.

Kein Entrinnen

Es ist selbstredend kein leichtes Buch, schon gar nicht ein leichtfertiges, sondern eines, das verstört und das einem tief in die Seele stößt, was nur so wirksam gelingt, weil Natascha Wodins musikalisch dahinfließende Sprache einen wie eine Liane packt, einschnürt und nicht mehr loslässt und mit sich schleift, ohne dass es ein Entrinnen gibt.

Besonders eindrucksvoll und schaurig schön gelingt dies in der Erzählung, in der sie eine Reise nach Sri Lanka beschreibt, viel mehr ist es eine magische Meditation über die Essenz von Ängsten, über das Fremde, über das, was die Macht hat, uns aus unserer Komfortzone und aus unserer Haut zu reißen.

Geschichte der Angst

Auch wenn Wodins Wille zur Aufarbeitung ihrer Ängste und inneren Feinde manchmal etwas überhandnimmt, sie weniger auf die erklärende Kraft der Literatur vertraut und stattdessen dem Leser mit psychologisierenden Handreichungen potenzielle Interpretationsräume nimmt, ist dies große Literatur, die über ihre Themen und ihre Sprache eine wunderbare Symbiose schafft.

Das Schreiben ist für die spätberufene Schriftstellerin Wodin Aufarbeitung, Kampf, Überleben, letztlich: Leben. "Ich sitze immer noch an meiner Schreibmaschine in der Küche und durchsuche", schreibt sie, "wie jede Nacht, die Sprache nach Worten für meinen eigentlichen Stoff, für die Geschichte meiner Angst, die Geschichte der Nachkommen." (Ingo Petz, 16.12.2023)