Collage 90ies
Die 90er-Jahre laden zu Nostalgie ein – laute Gitarrenmusik, der mystische Beginn einer noch seltsamen Sache namens Internet; Techno, Rave und Love Parade.
Illustration: Fatih Aydogdu

Bunte Fähnchen wehen im Wind, ein selbstgemaltes Schild weist uns den Weg. Der Wagen, den wir fahren, heult auf, macht einen Ruck, und wir bleiben stehen. Nach acht Stunden Fahrt zieht Xavier, Drummer, den Schlüssel aus der Zündung des bis zum Rand vollgeladenen Pkws. Er war der günstigste, den wir zur Miete finden konnten. Wir steigen aus, strecken uns, Feuerzeuge knipsen, Keyboarder Kilian klopft an eine Türe, auf der ein A4-Zettel mit unserem Foto klebt. Wir sind angekommen. Irgendwo, mitten in Deutschland – hier werden wir heute spielen. Uff.

Wir sitzen im Backstage und warten auf den großen Auftritt. Romy, Bassistin, ist auf einem mottenzerfressenen Diwan eingeschlafen, während Kilian versucht, die Tristesse des Provinzclubs mit Tiktok und US-Trap zu übertönen. Xavier hat sich ins Nebenzimmer zurückgezogen und meditiert entnervt. Kilian dreht die Lautstärke bis zum Anschlag: "I feel just like a rockstar", rappt es aus dem Handy, "poppin’ pillies like a rockstar", rappt Kilian mit und köpft eine Flasche Sekt von hinter der Bar. Der deutsche Veranstalter mit Holzfällerhemd und Indie-Bart lässt uns in Ruhe. Immerhin.

"Warum hören wir eigentlich immer so einen Trash?", fragt Romy. Sie ist aufgewacht und grinst uns an. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Der muffige Geruch vom Kaff-Club macht mich ganz benommen. "Nirvana sollen hier mal gespielt haben", gähnt Romy. Mir ist ziemlich schlecht, ich drehe die Musik leiser, nippe ein wenig am Sekt und möchte mich hinsetzen, doch merke, dass meine Schuhsohlen am Boden festkleben. "Oida", seufze ich. "Was ist?", fragt Romy. "Ich weiß nicht", antworte ich leise. "Ich will zurück in die 90s."

Endlich cool

Wer würde widersprechen? Die 90er-Jahre laden zu Nostalgie ein – laute Gitarrenmusik, der mystische Beginn einer noch seltsamen Sache namens Internet; Techno, Rave und Love Parade. War die Welt in den 90ern nicht endlich in Ordnung, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs endlich liberal-demokratisch und die Musik nach dem theatralisch-kotzigen Glam-Rock der 80er nicht endlich cool? Ich denke an bunte 90er-Autos, buntes 90er-Design und bunte 90er-Musikvideos. Nirvana auf MTV, Tocotronic statt Yung Hurn und Anrufbeantworter statt Smartphone. Schon geil. Es ist auch die Zeit, in der sich mit Kulturjournalismus noch genug Geld verdienen lässt, um das Leben in vollen Zügen zu genießen – Fußballer verdienen zwar weniger, dürfen dafür aber noch rauchen.

Die populär gewordene CD, die billig produziert und teuer verkauft werden kann, beschert der Musikindustrie glamouröse Zeiten. Fernseher fliegen sogar aus Hotelzimmerfenstern von Indiebands und zerschellen kapitalismuskritisch am Boden. Die Harald-Schmidt’sche Ironie prägt die bürgerlichen Konversationstechniken. Es heißt nicht richtig oder falsch – sprachliche Rollenprosa und Mehrdeutigkeit geben den Ton an, mit der sich intellektuell auf höchstem Niveau fechten lässt. Trash wird Teil der Popkultur; in der Mode etwa in Form von großen Firmenlogos auf T-Shirts, alten Trainingsjacken oder Sportschuhen. Die sind im Gegensatz zu heute aber noch mit Subversion aufgeladen und nicht von der Modeindustrie angeeignet.

Was soll ich noch sagen; eingeklammert zwischen dem Fall der Berliner Mauer und 9/11 scheint ein glückliches Jahrzehnt zu liegen, das glaubhaft den Eindruck erweckt, die Zeit gewesen zu sein, in der früher einfach alles besser war. Wäre ich doch bloß früher geboren, denke ich und betrachte die unzähligen Kritzeleien an den Wänden des Backstage. Die meisten davon sind Penisse.

"In zehn Minuten spielen wir", sagt Romy gelangweilt und scrollt durch ihren Tiktok-Feed. Wo Kilian ist, weiß ich nicht. Xavier hat mich schon dreimal angerufen. Ich starre auf die Wand und versinke in einer besonders kunstvollen Penis-Hieroglyphe.

Zweifel am Jetzt

Woher kommt die Gewissheit, dass früher alles besser war – romantischer, subversiver, lässiger? Und was bedeutet es, sich die 90s zurückzuwünschen – eine Zeit, von der ich außer ein paar schemenhaften Erinnerungsfetzen nichts habe außer der Vorstellung einer goldenen Ära, in der man nicht dreimal angerufen wird, obwohl man im Nebenraum sitzt?

Ich habe meine Zweifel am Jetzt, am marktschreierischen Zeitgeist der heutigen Gen Z. Followerzahlen als Währung, Likes als Energiekicks, Klicks als Qualitätsmerkmal und die Bewertung cute als Totschlagargument einer als cool geltenden, antiintellektuellen Haltung, die den Materialismus feiert. Ich möchte nicht sehen müssen, wie andere Menschen Austern essen oder Naturwein trinken.

Ich möchte nicht liken, kommentieren, zustimmen und Thumbs-up senden. Was ist meine Rolle zwischen all diesen sich gegenseitig pushenden Ichs? Ich fühle mich verloren. Erste Hilfe in solchen Momenten der Skepsis bietet leider oft nur die Aneignung. Ich öffne Instagram und überlege, eine Story zu posten. Mithilfe von Reactions werde ich mich bestimmt besser fühlen, denke ich. Vielleicht filme ich, wie ich Romy Sekt zuproste? Oder ich mache ein Review vom trostlosen Backstage, auf ironisch? Scheiße, irgendwie fällt mir nichts ein. Was habe ich der Welt eigentlich zu sagen? Wütend werfe ich mein Handy gegen die Wand. "Hmm?", sagt Romy.

Selbstermächtigender Materialismus

In den 90ern war noch alles anders. Gitarrenmusik gab den Ton an und erzählte von Weltschmerz und Traurigkeit. Der Rock der 90er sprudelte vor Zivilisationsskepis, Melancholie, Unterdurchschnittlichkeitssehnsucht und anderen feingliedrigen Ängsten des instabilen Ichs mit E-Gitarre. Ich kaue an meinen Fingernägeln. Heute ist selbst der provinziellste Vorstadt-Rapper interessanter als irgendeine verklemmte Indie-Band, die ihre Verlorenheit im Kapitalismus beichtet.

Der selbstermächtigende Materialismus hat sich durchgesetzt, und Schwäche als Kampfbegriff ist schon lange der Pose des "Look at me, I made it" gewichen. Die Stilisierung von Zweifel und Traurigkeit in Verbindung mit Gegenkultur und Loser-Mentalität gehört hingegen der Vergangenheit an. Und das nachdenkliche, book-smarte Sensibelchen Indieboy macht Platz für den lockeren, street-smarten "Gangster"-Rapper. Obwohl, selbst der scheint ein Ablaufdatum zu haben, verglichen mit der cyborghaften Übersinnlichkeit einer Doja Cat, einer Charlie XCX, einer Kim Kardashian. Krasser geht es immer, aber eben nicht zurück, denke ich.

Der Rock and Roll und sein Weltschmerz als Selbstzweck sind verpufft. Ich vermisse diesen Schmerz und den Protest einer Zeit, die ich selbst nicht erlebt habe. Eine Zeit, in der es, wie es der Sänger Beck einmal gesagt hat, nichts zu protestieren gab. Er ahnte es aber bereits damals: "I’m a loser baby, so why don’t you kill me."

Paul Buschnegg
Paul Buschnegg (*1996) ist Künstler, Musiker und Essayist. Er ist Teil der Band Pauls Jets und studiert an der Universität für angewandte Kunst Kultur­wissenschaften. Er lebt und arbeitet in Wien.
privat

Eine Welt in Trümmern

Es ist eine stille, warme Nacht. Die bunten Fähnchen hängen ausgeblichen vom Indie-Club herunter. Das Konzert ist lang vorbei. Romy und ich sitzen im Gras, wir rauchen Zigaretten. "Und du magst also zurück in die 90s?", fragt sie. "Weiß nicht, du nicht?", antworte ich müde, und wir schweigen ein bisschen. "Weiß nicht", sagt Romy, und dann: "Ich bin ja damals nach Deutschland, meine Mama ist schon ein Jahr vorher hingefahren, um zu arbeiten, damit wir dann legal nachkommen können."

In Kroatien herrscht ab 1991 Krieg. Nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens sollen alte, nationale Rechnungen mit Blut beglichen werden. Regionale Konflikte rund um die Souveränität der serbischen Bevölkerung im postjugoslawischen Kroatien weiten sich über wenige Monate zu einem immer weiter eskalierenden Krieg aus. "Mein Vater wäre beinahe eingezogen worden, zur letzten Mobilisation", erzählt Romy. Sie zieht an ihrer Zigarette und bläst ein paar kreisrunde Rauchringe in die Nacht. Romy und ihr Vater verlassen Kroatien 1995 und gehen nach München. Dort geht Romy zur Schule, hört das erste Mal Beatles und beginnt selber Musik zu spielen.

L’amour toujours

Romys Heimatstadt Karlovac, das nahe der Grenze zwischen von Kroatien kontrollierten Gebieten und den von serbischen Rebellen gehaltenen Stellungen liegt, ist stark betroffen. Es ist über mehrere Monate hinweg Artilleriebeschuss ausgesetzt. Viele Menschen in und um Karlovac sind serbisch-orthodox getauft und werden allein deshalb von der katholischen Mehrheit aus ihrer Heimat vertrieben. Romy lernt in München Deutsch, Klavier, Gitarre und Bass, als in Ex-Jugoslawien eine Welt in Trümmern liegt. Über 200.000 Menschen sterben, über zwei Millionen verlassen ihr Land, niemand weiß, wie es weitergehen soll.

In Österreich feiert währenddessen eine bislang wenig beachtete Partei ihren kometenhaften Aufstieg: die FPÖ. Jörg Haider formt aus einer kleinen, konservativen Wirtschaftspartei die modernen Freiheitlichen, so wie wir sie heute kennen. Xenophobie, NS-Verharmlosung und Bierzeltrhetorik bestimmen seit damals wieder österreichische Politik mit. Romys Vater arbeitet in München als Fahrer, in Kroatien war er Musiker – als Keyboarder und Akkordeonist spielte er in einer Rockband.

Romy erzählt es mir, ich liege im Gras und schaue in den Himmel. Die Nacht ist hell, der Mond schaut herunter, und in der Ferne klingt ein Song, ich glaube, es ist Gigi D’Agostinos L’amour toujours. Ich weiß eigentlich nichts über die 90s, denke ich. Unz unz unz, tönt es aus dem 100 Meter entfernten Club. (Paul Buschnegg, 16.12.2023)