Polizeistation
"Wir haben die Gendarmerie angerufen, die haben uns abgeholt", so derfranzösische Lieferant, der Batty entdeckte.
REUTERS/STEPHANE MAHE

Als Fabien Accidini zum zweiten Mal binnen kurzer Zeit nachts an dem jungen Mann mit schwerem Rucksack und Skateboard vorbeifuhr, siegte die Neugierde über den engen Zeitplan des Medikamenten-Ausfahrers. Im strömenden Regen bot der 26-Jährige in der Nacht zum Mittwoch nahe des südfranzösischen Dorfes Camon dem pudelnassen Wanderer eine Mitfahrgelegenheit.

Wenig später hatte sich der durchnässte Tramper seinem Helfer gegenüber als der seit sechs Jahren vermisste Alex Batty aus Oldham bei Manchester offenbart – Ausgangspunkt des vorläufig letzten Aktes einer schier unglaublichen Geschichte, die Millionen von Britinnen und Briten in diesen Adventstagen die Herzen wärmt. Gleichzeitig gibt sie Einblick in den Lebensstil von Öko-Kommunen, die fernab jeder Zivilisation als Selbstversorger ohne Strom leben.

"Außer mir vor Freude"

Die Nachricht von der Gendarmerie-Station in Saint-Félix Lauragais, wo der gute Samariter seinen 17-Jährigen Fahrgast ablieferte, machte Susan Caruana in Oldham zunächst sprachlos. "Ich bin außer mir vor Freude" über die Nachricht von ihrem vermissten Enkel Alex, berichtete die 68-Jährige den britischen Medien. Das Happy End nach so vielen Jahren sei beinahe unbegreiflich: "Ich bin im Schockzustand."

Caruana hatte schon bald nach Alex‘ Geburt dauernd Streit mit ihrem geschiedenen Mann David und der gemeinsamen Tochter Melanie gehabt darüber, wieviel Stabilität der Knabe in seinem Leben brauche. Mehrfach nahm Melanie ihren Sohn für mehrere Monate aus der Schule und lebte in unterschiedlichen Öko-Kommunen in Marokko und Spanien. Als sie plötzlich ohne Kind nach Bali weiterreiste, so berichtete es Caruana später in einem Interview, "bekam ich Panik und bezahlte seinen Heimflug". In Oldham ging der damals Achtjährige nicht nur regelmäßig zur Schule; seiner Großmutter wurde auch vom Familiengericht das alleinige Sorgerecht für Alex zugesprochen.

Freilich ist Gerichtspapier geduldig, wenn Menschen ihren eigenen Weg gehen wollen. Offenbar schlossen sich Melanie und ihr Vater David via Facebook Gruppen mit illustren Namen wie "One People Community" an. Ganz konventionell buchten sie im Herbst 2017 einen Strandurlaub mit Alex an der spanischen Südküste. Den Rückflug von Malaga trat das Trio im Oktober 2017 nicht mehr an, verschwand vielmehr von der Bildfläche.

"Permanent zugedröhnt"

Den vorläufigen Ermittlungen der französischen Behörden zufolge hat der Heranwachsende die Jahre seither zunächst in Marokko und Spanien verbracht, ehe er wohl im Frühjahr 2020 noch vor der Covid-Pandemie mit seiner Mutter im Süden Frankreichs landete. Der örtlichen Bevölkerung zufolge leben dort am Fuße der Pyrenäen einige Gruppen jenseits jeglicher bürgerlicher Konventionen ihren nomadischen Lebensstil. "Die scheinen permanent zugedröhnt zu sein, dabei aber ganz glücklich", berichtete eine Einheimische der "Sunday Times".

Alex Batty auf einem undatierten Kinderfoto.
Alex Batty auf einem undatierten Kinderfoto.
via REUTERS/Greater Manchester Police

Alex scheint das unkonventionelle Leben zuletzt auf die Nerven gegangen zu sein. Unbestätigten Berichten zufolge wollte er eine örtliche Schule besuchen, was aber an mangelnden Papieren scheiterte. Zuletzt habe seine Mutter von einem bevorstehenden Umzug nach Finnland gesprochen – diese neueste Etappe mochte der nunmehr 17-Jährige nicht mitgehen. Und so landete er nachts auf der Landstraße bei Camon, offenbar auf dem Weg in die Provinzhauptstadt Toulouse.

"Möchten jetzt gern allein sein"

Am Wochenende holte Caruanas neuer Partner in Begleitung von zwei Polizeibeamten aus Manchester den wiedergefundenen Enkel aus Frankreich zurück in die Heimat. "Wir möchten jetzt gern allein sein", teilte die Großmutter mit, schließlich handle es sich um "ein überwältigendes Erlebnis, nicht zuletzt für einen Jugendlichen".

Ob es damit sein Bewenden hat? Den BBC-Fernsehnachrichten und den Schlagzeilen der Sonntagszeitungen nach zu schließen, bleibt der Appetit der Briten auf die schöne Adventsgeschichte riesengroß. Vielleicht gibt es in den nächsten Tagen in einer der bekanntermaßen großzügig zahlenden Boulevardzeitungen noch weitere Einzelheiten nachzulesen über die Odyssee des Alex Batty. Eines jedenfalls scheint festzustehen: Weder die französischen noch die britischen Strafverfolgungsbehörden planen ein Verfahren gegen Alex‘ Mutter. Ein Happy End also für alle Beteiligten. (Sebastian Borger, 17.12.2023)