Philosophie Todesfall Empire Multitude
Philosoph Antonio Negri, hier 2013: zu Hause in Italien wie im französischen Exil ein unbeirrbarer Sucher nach dem Subjekt einer kommenden Veränderung.
IMAGO/Sacha Goldman

Die Bewegungen der radikalen Linken in Europa nehmen sich, aus heutiger Perspektive betrachtet, eigentümlich historisch aus. Ihre Vertreter wie Antonio Negri agierten konfrontativ, ihr bewaffneter Flügel, die Brigate Rosse, mitunter auch gewalttätig. Sie alle nahmen das Ganze der Gesellschaft in den Blick. Gedrängt wurde beispiellos vehement auf die Errichtung eines Reiches der Freiheit. In ihm sollten die Produzierenden – damals hieß das: die Fabrikarbeiter – sich in den Besitz jener Mittel bringen, den die Vertreter des Kapitals ihnen vorenthielten.

Italiens Operationsgebiet umfasste plötzlich die Fiat-Werke. In der "Bleiernen Zeit" nach der Jahrzehntwende 60er/70er wurden Streiks mit Polizeigewalt unterdrückt, während Geheimdienste Bomben legten, um die Attentate anschließend der radikalen Linken in die Schuhe zu schieben.

Doch was hatte es auf sich mit der Radikalisierung linker Marxisten, die dem italienischen Staat vor bald 60 Jahren die Gefolgschaft aufkündigten? Und wie konnte es passieren, dass sie dabei ihrerseits ins Fadenkreuz parteilicher Staatsschützer gerieten? Antonio Negri, der damals ebenso junge wie brillante Paduaner Professor für Staatsrecht, misstraute bereits in den 1960ern all jenen Stimmen, die für eine voreilige oder auch nur schlampige Versöhnung des Grundwiderspruchs von Kapital und Arbeit plädierten.

Seine intellektuelle Arbeit glich einer grundsätzlichen Neubestellung. Negri tat bis zu seinem Tod nichts anderes, als das gesellschaftliche Terrain zu kartografieren: seine Handlungsträger zu bestimmen, Knoten der Macht zu lokalisieren. Es ging ihm darum – in späterer Anlehnung an Foucault und Deleuze/Guattari –, mögliche Widersacher auszuforschen. Um alle Potenziale für eine Revolution tatsächlich auszuloten.

Drängen auf Praxis

Marx' politische Ökonomie wurde dadurch nicht zu den Akten gelegt. Als Generalsekretär der Potere Operaio drängte Negri gleichwohl auf eine revolutionäre Praxis, die grundstürzend sein sollte. Er wurde 1979 verhaftet, im Nachhall der Aldo-Moro-Ermordung ein Jahr davor.

Als "Rädelsführer", der "zu Gewaltverbrechen angestiftet" hatte, wurde der Philosoph zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt. Negri verbrachte, wie so viele norditalienische Linke vor und neben ihm, 14 Jahre im Pariser Exil. Nach seiner Rückkehr 1997 überstand er die restlichen Jahre als Freigänger, der nachts in die Zelle einrückte. Ein Terrorist, ein gewalttätiger Radikaler? Negri gab später zu Protokoll, seine angeblichen Blutsbrüder von den Brigate hätten – mit ihm gemeinsam einsitzend – den Stab über ihn gebrochen, indem sie ihn symbolisch zum Tode verurteilten.

Paris bildete den Lebensmittelpunkt von Negris späten, ebenso produktiven wie für sein Denken folgenreichen Jahren. Die Rekonstruktion eines materialistischen Vernunftbegriffs führte ihn zur Neubestimmung dessen, was Arbeit heute bedeutet. Es ist deren Immaterialität, die ihre Akteure in die Vernetzung treibt. Die alten Zwangs- und Disziplinarmächte verlieren an Schrecken: Sie sickern häufig unmerklich in die Lebensgepflogenheiten aller am Kapitalismus Beteiligten ein.

Handelndes Subjekt

Das "Empire" (so auch der Titel eines gemeinsam mit Michael Hardt verfassten Buches von 2000) bildet den alles umfassenden Moloch – ein globales Gebilde ohne Außen, das buchstäblich alles und jeden vergesellschaftet.

Und doch wollte Antonio Negri nicht lassen vom Entwurf eines handlungsmächtigen Subjekts, das sich die schnöde, zu Tode verwertete Welt "wiederaneignet". Seine Hoffnungen setzte er auf die "Multitude". Diese bildet eine Menge oder Vielheit, die in je wechselnden sozialen Aggregatzuständen auftritt. Sie könne ob ihrer Beweglichkeit den Schlichen des Empires zuvorkommen. "Zu sich selbst" müsse diese imaginierte Vielheit finden – und ein Gegen-Empire bilden.

Von dieser neuen "Menge" von gesellschaftlich Arbeitenden lässt sich noch nicht absehen, ob und wann sie gesonnen sei, als potenziell revolutionäres Subjekt aufzutreten, um geschichtlich wirksam zu werden. Das "Gift der Mutlosigkeit" ließ dieser furchtlose Denker nicht gelten. Antonio Negri, der ein zupackender Redner war, ist bereits in der Nacht auf den 16. Dezember 90-jährig in Paris gestorben. (Ronald Pohl, 18.12.203)