Eine Familie sitzt am Tisch und feiert Weihnachten, sie heben gerade die Gläser
Da hockt man plötzlich zwischen Geschwistern, Eltern und Verwandten. Ein falscher Kommentar, und schon herrscht dicke Luft.
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Zu Weihnachten nach Hause zu den eigenen Eltern zu fahren und dort die gesamte Verwandtschaft zu treffen, fühlt sich für viele an wie eine Zeitreise. Eigentlich ist man selbst schon lange erwachsen. Eigentlich hat man selbst schon Wohnung, Partner, Kinder. Eigentlich. Doch kaum trifft man auf Mama und Papa, dauert es meist nicht lange, bis man wieder zum Kind degradiert wird. Schon bei der Begrüßung wird die neue Frisur kritisiert und nett gemeint die Wange getätschelt.

Nach dem fünften blöden Kommentar zu Aussehen, Job oder den eigenen Kindern verlieren selbst geduldige Menschen die Nerven. Es kommt zum Streit. Schon wieder.

Für Familienberaterin und Bestsellerautorin Sandra Teml-Wall ist in solchen Situationen eine "Entelterung" notwendig, also der Ausstieg aus ungesunden emotionalen Abhängigkeiten. Im Interview erklärt sie, wie das gelingt und warum Weihnachten auch ohne Streit gefeiert werden kann.

STANDARD: Zu Weihnachten nach Hause zu den Eltern zu fahren und während der Feiertage die ganze Sippschaft zu treffen bereitet vielen in meinem Umfeld schon im November Bauchschmerzen. Warum eigentlich?

Teml-Wall: So geht es leider ganz vielen Menschen. Anstatt sich auf die Familie zu freuen, reagieren sie mit Stress und Angst. Viele erinnern sich vielleicht an die Jahre davor, an den Streit mit der Mutter, die unguten Kommentare des Onkels. Ich höre in der Praxis dann Sätze wie "Ich versuche die Feiertage einfach schnell rumzubringen". Das muss nicht sein. Niemand muss einander ertragen. Besser ist es konfliktfit nach Hause zu fahren, anstatt Weihnachten damit zu verbringen, sich zu fürchten. Ich lade Erwachsene dazu ein, den Heiligen Abend und die Tage danach lieber so zu gestalten, wie es einem guttut.

STANDARD: Warum ist Weihnachten überhaupt so emotional aufgeladen?

Teml-Wall: Die Leute sind am 24. Dezember total erschöpft vom gesamten Jahr. Mit Weihnachten beginnt für viele der Urlaub, eine Zeit, sich wieder einmal zu erholen. Das Weihnachtsfest selbst ist aber meist alles andere als erholend. Es ist mit vielen Erwartungen verknüpft: Es soll gemütlich werden, alle sollen sich über die Geschenke freuen, das Essen soll gut und ausreichend sein und allen schmecken. Je größer die Familie, umso schwieriger wird es, tatsächlich alle zufriedenzustellen. Das verursacht Stress und führt eben häufig zu Konflikten.

STANDARD: Worüber streiten sich Familien unter dem Christbaum am häufigsten?

Teml-Wall: Die häufigsten Konfliktthemen zwischen den Generationen sind Ungerechtigkeit und enttäuschte Erwartungen. Wenn etwa Geschwister Geschenke bekommen, die preislich deutlich auseinanderliegen, dann wird das gleich hinterfragt, weil es wehtut, ungerecht behandelt zu werden. Und was emotional wehtut, macht auch aggressiv.

Paare streiten sich meist über die gleichen Dinge, die sie sonst auch beschäftigen: Geld, Kindererziehung, Sex und die Beziehung zu den Eltern bzw. Schwiegereltern.

STANDARD: Wenn es schon Kinder bzw. Enkelkinder gibt, wird auch gerne über die richtige und falsche Erziehung gestritten ...

Teml-Wall: Das kennen viele junge Eltern. Man hört dann im Vorbeigehen Sätze wie "Du lässt dem alles durchgehen" oder "Also ich würde da viel strenger sein". Auch die Enkelkinder selbst werden kritisiert: "In meiner Zeit hatten wir keine Handys" oder "Geh halt einmal raus spielen". Man muss wissen, dass Eltern oder Großeltern häufig aufgrund eigener Ängste oder Unflexibilität die Erziehung der eigenen Kinder kritisieren oder gar die Enkelkinder selbst verbal angreifen und herabwürdigen.

STANDARD: Wie reagiert man am besten auf blöde Kommentare?

Teml-Wall: Man kann sich fassen und aus dem Herzen sagen: "Ich finde das nicht lustig." Damit wird es aber nicht zu Ende sein. Wir schlagen in unserem aktuellen Buch "Ent-Eltert euch!" vor, solche Gespräche schriftlich durchzugehen. Um sich immer wieder zu fassen, neu zu sortieren und um stets die Person zu bleiben, die man in der Situation sein will. Vorwarnung: Wenn wir das alte Spiel unterbrechen, ist damit zu rechnen, dass wir keine Applaus dafür bekommen. Im Gegenteil. Wahrscheinlich hört man dann von den Eltern Ansagen wie: "Ach, sei doch nicht so empfindlich!" Man kann sich also schon im Vorfeld überlegen, welche Reaktion darauf angemessen wäre.

STANDARD: Auch ein Klassiker: "Ich meine es ja nur gut!" Wollen Eltern wirklich immer nur das Beste für ihr Kind?

Teml-Wall: Ich finde, wenn ein gutgemeinter Ratschlag im anderen keine positive Reaktion auslöst, dann kann man damit aufhören. Das tun aber viele Eltern nicht, sondern machen ihr Ding weiter, obwohl sie sehen, dass sie damit Konflikte und Leid erzeugen. Diese Eltern nehmen sich wichtiger als das Wohl ihrer Kinder: Sie bringen etwa Essen mit, obwohl sie mehrmals gebeten wurden, das nicht zu tun. Das ist respektlos.

STANDARD: Und was macht man, wenn Eltern oder Großeltern immer wieder respektlos sind?

Teml-Wall: Die jüngere Generation sollte über einen Ortswechsel zu sich nach Hause nachdenken und darüber philosophieren, wie viel Zeit man mit respektlosen Menschen verbringen will. Es ist auch legitim zu sagen: "Wir wollen Weihnachten allein feiern!" Wie würden Sie als Nichtraucherin mit kleinen Kindern handeln, wenn Ihre Eltern darauf bestehen würden, bei Ihnen zu Hause zu rauchen?

STANDARD: Oft wird über die immer gleichen Themen gestritten. Warum kann man die nicht einmal lösen und fertig?

Teml-Wall: Dazu müsste zumindest einer aus der Familie aus den alten Mustern aussteigen, sich etwas Neues einfallen lassen, etwas riskieren, also wachsen. Das ist anstrengend. Lieber werden die alten, aber vertrauten Bahnen gefahren, selbst wenn sie einen gar nicht glücklich machen.

STANDARD: Und wie könnte das Abkommen von vertrauten Bahnen aussehen?

Teml-Wall: Eine Möglichkeit wäre, Weihnachten in das eigene Hoheitsgebiet zu verlegen, in dem die Regeln der nun erwachsenen Kinder gelten. Wenn man in den eigenen vier Wänden ist, fällt es einem deutlich leichter, zu seinen Werten zu stehen. Dann traut man sich plötzlich, Opa zu unterbrechen, wenn er einen seiner schlüpfrigen Witze erzählt. Oder man sagt der eigenen Mutter, dass man ihre Erziehungsratschläge unangebracht findet.

STANDARD: Erwachsene Menschen, die selbst schon eine eigene Familie haben, fallen zu Weihnachten oft wieder in die alte Kinderrolle. Was passiert da?

Teml-Wall: Das sind erwachsene Söhne oder Töchter, die sich ihren Eltern nicht zumuten, die ihre Eltern schonen. Das sieht dann so aus: Der vierzigjährige Sohn raucht bei seinen Eltern heimlich, oder die dreißigjährige Tochter zwängt sich in einen Faltenrock und drängt ihrem Freund eine Krawatte auf, damit die Eltern ein gutes Bild von ihnen haben. Diese Eltern kennen ihre erwachsenen Kinder gar nicht. Sie kenne nur die Schonversion. Damit will ich nicht sagen, dass man den Eltern nicht durch elegantes Gewand eine Freude machen kann. Ich spreche mich aber gegen Halbherzigkeit aus. Wenn es wehtut, so zu sein, wenn der Faltenrock schmerzt, wenn es eine Verkleidung ist, wenn ich mich verstelle, dann ist es keine Liebe, dann kommt es nicht von Herzen.

STANDARD: Es gibt aber auch Familien, da wird nie gestritten, dafür verwandelt sich der vierzigjährige Manager bei den Eltern plötzlich in ein Muttersöhnchen. Ist das eine Art Schutz vor möglichen Konflikten?

Teml-Wall: Ja. Sich anpassen, sich unterwerfen, allen gerecht werden ist der Versuch einer Deeskalation. Diese Menschen leben schon in einer Desastererwartung und verhalten sich sicherheitshalber so. Damit sind sie schon als Kinder gut gefahren und machen es auch Erwachsene so. Leider hat diese Pseudoharmonie einen hohen Preis. Nämlich den des Verlusts der eigenen Integrität und Authentizität.

STANDARD: Für den Partner oder die Partnerin ist das auch nicht gerade sexy ...

Teml-Wall: Natürlich nicht. Das führt auch zu Konflikten in der Paarbeziehung.

STANDARD: Man könnte als Paar schon vorab über mögliche Konfliktpotenziale rund um Weihnachten sprechen.

Teml-Wall: Das ist eine gute Idee! Gerade heute hatte ich ein Paar in meiner Praxis, das sich einen Leitfaden für Weihnachten erstellt hat. Die beiden haben beschlossen, die Gestaltung und Verantwortung wieder zu sich zu nehmen. Sie wollen bestimmen, wann was gemacht wird. Dazu haben sie Sätze und Strategien erarbeitet, die sie anwenden können, wenn die Eltern zu jammern beginnen. Davor haben sie sich aber darauf geeinigt, dass sie zu dieser Form des Fests hundertprozentig und aus ganzem Herzen Ja sagen. Also keine Halbherzigkeit, sondern integres Handeln.

STANDARD: Ist es für die Weihnachtsfeiertage nicht manchmal besser, wenn man die Klappe hält und sich seinen Teil denkt?

Teml-Wall: Es gibt da einen Spruch: "Ich sage nichts, aber was ich denke, ist grausam." Damit ist gemeint, wenn wir innerlich die Augen rollen, ist das in uns lesbar. Wenn wir allerdings integer handeln, können wir ganz gut einen Abend mit herausfordernden Menschen verbringen, weil wir uns dafür entschieden haben. Wir sind dann nicht mehr Opfer der Umstände, sondern auch Gestalter unseres Weihnachtsfests.

STANDARD: Nun gibt es auch Menschen, die sich bewusst gegen die Familie entscheiden und Weihnachten lieber woanders feiern. Ist das eine gute Idee?

Teml-Wall: Kann man natürlich machen, es löst aber schwelende Konflikte nicht auf. Konflikte sind immer auch Wachstumseinladungen. Wenn man Weihnachten also lieber woanders verbringt, um Konflikten aus dem Weg zu gehen, verschiebt man diese nur zeitlich. Vor unseren eigenen ungelösten Thema könne wir ohnehin nie davonlaufen.

STANDARD: Es ist dennoch legitim, wenn man lieber woanders feiert. Wie kommuniziert man das dann am besten der Familie, ohne sie zu verletzen?

Teml-Wall: Enttäuschungen gehören zu Beziehungen dazu. Würden wir immer Ja sagen, hätten wir zwar keinen Konflikt, wir hätten uns aber selbst verloren. Ich gehe davon aus, dass unsere Anverwandten mit einem aufrichtigen Nein umgehen können. Sie dürfen wütend und enttäuscht und traurig sein – auch das gehört zu einer Enttäuschung dazu. Wenn man diese Gefühle nicht durch Gedanken anheizt, gehen sie wie Wellen vorbei. Alles andere ist Drama.

STANDARD: Und anders herum: Was raten Sie Eltern, die allein unterm Christbaum bleiben, weil die Kinder nicht mehr kommen?

Teml-Wall: Machen Sie sich eine feine Zeit! Fragen Sie sich, wer Sie ohne Kinder sind. Brauchen Sie Ihre Kinder, um glücklich zu sein, oder bekommen Sie das selbst hin? Vielleicht zeigen sich nun verborgene Themen, die schon lange unter dem Teppich nur darauf gewartet haben, angesprochen zu werden. Schauen Sie mutig hin! Fühlen Sie, was Sie fühlen. Es ist eine Einladung. Und Weihnachten eine gute Integritätsschulung. (Nadja Kupsa, 21.12.2023)