Selfie
Vor zehn Jahren posierte Ellen DeGeneres mit halb Hollywood, darunter Jennifer Lawrence, Meryl Streep, Julia Roberts, Brad Pitt, Kevin Spacey und Bradley Cooper, für ein Selfie.
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Vor knapp zehn Jahren quetschte sich ein Haufen Prominenter zusammen, um Social-Media-Geschichte zu schreiben. Bei der Oscar-Verleihung 2014 posierte US-Talkmasterin Ellen DeGeneres mit elf Celebritys von Jennifer Lawrence über Meryl Streep bis Brad Pitt für ein Selfie und postete es auf Twitter, das damals noch nicht X hieß. Innerhalb von einer Stunde wurde das Foto 1,4 Millionen Mal retweetet – ein Rekord, der einige Jahre halten sollte. Das Foto gilt bis heute als berühmtestes Selfie der Geschichte. Unter anderem aufgrund dieses Fotos gelten die Jahre 2013/14 auch als die "Jahre des Selfies".

Das Format Selfie steht wie kein zweites für die die Zehnerjahre des 21. Jahrhunderts. Und auch zehn Jahre nach seinen "Jubeljahren" bleibt das Fotoformat beliebt wie umstritten. Selfies umweht der Hauch des Narzissmus, weil sich der Fotograf dafür zwangsläufig in den Mittelpunkt stellt und inszeniert. Die Wissenschaft sieht darin eine Technik, das Ich direkt und unmittelbar abzubilden, aber auch, dieses Ich zur Ware zu machen. Und auch wenn weiterhin Millionen Selfies pro Tag gemacht werden: In der Welt der Social-Media-Influencer, mit der man das Format am ehesten verbindet, ist das klassische Selfie (Blick von schräg oben auf die linke Gesichtshälfte) seit einigen Jahren schon auf dem Rückzug.

Erfindung des Selfies?

Es war eine gewagte Behauptung, die die Hotelerbin und Geschäftsfrau Paris Hilton im Jahr 2017 mit ihren Social-Media-Followern teilte. "Heute vor elf Jahren haben Britney und ich das Selfie erfunden!", postete Hilton zusammen mit zwei Fotos von Britney Spears und sich selbst aus dem Jahr 2006. Auf einer Ebene ist diese Aussage natürlich grundfalsch. Das erste fotografische Selbstporträt stammt wahrscheinlich aus dem Jahr 1839, das erste klassische Selfie, bei dem die Kamera in der Hand des Fotografen liegt, aus dem Jahr 1920. Auch Selfie-Sticks, also Stäbe, an denen man eine Kamera befestigen kann, sind fast 100 Jahre alt. Aber das Selfie ist natürlich nicht nur eine Technik der Fotografie, sondern auch ein kulturelles Phänomen. Und da ist Paris Hilton schon etwas näher an der Wahrheit.

Ungefähr ab Mitte der Nullerjahre waren Handykameras gut genug, dass Menschen damit ihren Alltag dokumentieren konnten. Wie so oft gingen technische und kulturelle Entwicklungen Hand in Hand und bedingten einander: Smartphones kamen auf; die integrierten Kameras wurden besser; gleichzeitig entwickelten sich Plattformen, vor allem Facebook, auf denen die so entstandenen Fotos geteilt werden konnten. Dass das Selbstporträt in den ersten Jahren von Facebook nicht den besten Ruf genoss, weil es sehr an die qualitativ schlechten MySpace-Fotos vor Badezimmerspiegeln erinnerte, ist heute ein wenig in Vergessenheit geraten. Die Einführung der Front Camera am Handy, der Launch von Instagram 2010 und die Implementierung der Gesichtsfilter ein Jahr später sorgten dafür, dass das Selfie als Phänomen nicht mehr aufzuhalten war.

Das Selfie-Paradox

Wie jedes kulturelle Phänomen zog auch das Selfie schnell Kritik auf sich. Eltern und Psychologen sorgten sich um das Körper- und Selbstbild der Jugend. Und auch von einer anderen Eigenschaft kultureller Phänome blieb das Selfie nicht verschont: Es erzeugte einen Backlash. Vielen Leuten wurde es schnell zu viel. Social-Media-User selbst assoziierten Selfies schon recht bald mit Unauthentizität und Narzissmus. Das Gruppenselfie, das bei der Oscar-Verleihung 2014 noch neu und spontan gewirkt hatte, roch Jahre später bei Politikern wie Theresa May nur mehr nach lahmer Inszenierung. Die Fototechnik wurde zunehmend auch mit der polarisierenden Sparte der Influencer verbunden. Selfies waren das perfekte Symbol für eine Kommodifizierung des eigenen Lebens: Influencer verdienten ihr Geld damit, ihr Leben in Selfies zu dokumentieren. Kurzum: Es gab etwas, das in der Wissenschaft ab 2016 mit dem Begriff des "Selfie-Paradox" benannt wurde: Niemand mag sie, jeder macht sie.

Erst später wurden die positiven Seite der Selfies von der Wissenschaft entdeckt. Selfies bedeuten Mündigkeit und Kontrolle über das eigene Bild. Und heute weiß man auch, dass Selfies manche Dinge besser können als klassische Fotos. Eine Studie der Ohio State University von 2023 zeigte, dass das klassische Foto aus Sicht des Fotografen zwar besser ist, um für andere Menschen die Details eines Moments festzuhalten. Ein Selfie hält den emotionalen Impact eines Moments für den Fotografen aber viel besser fest. Quasi: Ein Foto hält fest, was ich sehe, ein Selfie, was es für mich bedeutet, das zu sehen. Der Versuch, beides aufs Foto zu kriegen, kann an speziellen Orten leider durchaus gefährlich werden: Das Phänomen des "Selfie Death", also der Tod von Menschen beim Versuch, spektakuläre Selfies zu schießen, geht seit Jahren durch die Medien. Wie oft das wirklich passiert, ist schwer zu sagen – oft wird die Zahl 379 genannt, die eine Studie für die Jahre 2008 bis 2021 feststellte –, aber Wissenschafter der University of New South Wales plädierten heuer dafür, das Phänomen als "Public Health Issue" zu behandeln.

Fotos, die mit dem Ziel aufgenommen werden, sie mit der Welt zu teilen, sind eine Form der nonverbalen Kommunikation. Und dementsprechend gibt es auch durchaus kleine, aber wahrnehmbare Unterschiede je nach Kontext, in dem kommuniziert wird. Bei einer Studie der Universität Sheffield wurden Selfies derselben User auf verschiedenen Plattform verglichen. Das Ergebnis: Sowohl Frauen als auch Männer posteten auf Instagram andere Selfies als auf der Datingplattform Tinder. Aber das "anders" unterschied sich. So wurden Selfies von Männern auf Tinder gerne von unten aufgenommen, was die Person größer erscheinen ließ. Die Selfies der Frauen waren tendenziell frontaler und neutraler als auf Instagram, um sich an soziale Normen anzupassen und weniger sexuelle Verfügbarkeit auszustrahlen – so zumindest die These der Forscher.

Den Moment einfangen

Fragt man Social-Media-Experten, was ein gutes Selfie ausmacht, dann geht es meistens nicht um den Winkel, aus dem es aufgenommen wurde. Sondern um einen Wert, den es ausstrahlen sollte: Authentizität. Ein gutes Selfie muss zu dem Menschen passen, den ich verkörpere. Und es sollte einen Moment einfangen. Sängerin Billie Eilish zeigte 2021 ihren Fans ihre blond gefärbten Haare als Erstes auf einem Foto, das offensichtlich in einer Toilette aufgenommen wurde, und bekam dafür fast 20 Millionen Likes.

Als der damalige US-Vizepräsident Joe Biden 2014 sein erstes Instagram-Selfie postete, schrieb er dazu, dass er "einen Freund aufgetrieben" habe, der mit drauf sein sollte. Man sah ein körniges Foto von Barack Obama und Biden, grinsend auf der Rückbank der Präsidentenlimousine, aus schlechtem Winkel aufgenommen. Daran war wenig gestellt. Lange war ein Selfie von Selena Gomez und ihrem damaligen Freund, dem Sänger The Weeknd, auf Platz eins der meistgelikten Posts auf Instagram. Die beiden stehen auf irgendeinem Parkplatz und wirken nicht wie millionenschwere Stars, sondern wie ein normales, sehr attraktives Paar.

Scrollt man durch die Feeds der Social-Media-Influencer, dann fällt auf: Das klassische Selfie, von schräg oben mit der linken Hand aufgenommen (bei Linkshändern entsprechend umgekehrt), ist ein wenig aus der Mode gekommen. Millennials sind wieder zum Foto im Spiegel zurückgekehrt, das einmal das "MySpace Pic" hieß, heute aber "Mirror Selfie". Und die Gen Z, die oftmals die voreingestellten Filter ablehnt (gekennzeichnet durch den Hashtag #nofilter), kennt etwas, das sich "0,5 Selfie" (ausgesprochen "point five selfie“) nennt. Dabei stellt man die Kamera auf "Ultra wide mode", im Handy oft durch "0,5x" angezeigt, ein und bekommt einen leichten Fischaugeneffekt.

So ist das Selfie, zehn Jahre nach dem "Jahr des Selfies", keineswegs tot. Es hat sich nur ein wenig verändert und als Begriff verbreitert. "Selfie" ist eher eine Kategorie geworden, die sich über ihren Zweck definiert. Und der ist immer noch derselbe wie zu Zeiten der modernen (Wieder-)Erfindung des Selfies: andere Menschen am eigenen Leben teilhaben zu lassen.

Die oben bereits erwähnte Studie der Ohio State University zeigte nicht nur, dass klassische Fotos und Selfies unterschiedliche Stärken haben, sondern auch, dass Menschen diese Stärken intuitiv erkennen würden. "Selfies dokumentieren die Bedeutung eines Moments", wurde eine der Forscherinnen zitiert. "Dahinter muss keine Eitelkeit stecken." (Jonas Vogt, 2.1.2024)

Video: Darum seid ihr schöner als eure Selfies.
DER STANDARD