Im März wurde bei Daniel Nader die neurodegenerative Erkrankung Multisystematrophie diagnostiziert.
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Es ist ein ganz normaler Vormittag im Bounce. Wieso auch nicht. Einige Boxpaare üben im Saal Muhammad Ali Schlagtechniken, Schrittfolgen, Körperhaltungen, Angriff, Deckung, zack. Immer wieder zischen Hände in Handschuhen auf Körper und Kopfschutz. Es sind viele neue Boxer und Boxerinnen, die es durch die Sichtung geschafft haben und jetzt die nächsten Schritte der Karriere machen wollen.

Daniel Nader stützt sich an den Seilen zu einem der zwei Ringe. Für den Boxtrainer ist es die vielleicht natürlichste Haltung, so oft stand er da, so oft hat er Jung und Alt, den Erfahrenen und Greenhorns zugesehen – und sie begleitet, sie trainiert, sie zu besseren Boxern und Boxerinnen gemacht. Und doch ist für den 41-Jährigen nichts mehr normal. Seit er die Diagnose erhalten hat.

Vor ein paar Tagen war ich beim Notar. Für eine Generalvollmacht. Jetzt bin ich ja noch geschäftsfähig, aber es kann irgendwann sein, dass ich es nicht mehr bin. Du bist dann zwar nicht tot, also noch da, kannst das aber alles nicht mehr erledigen. Wir haben uns auch mit dem Testament befasst, weil es da Komplikationen gibt. Sterben ist gar nicht so einfach. Ich muss mein Leben jetzt regeln. Wenn du die Krankheit googelst – MSA, also Multiple Systematrophie mit atypisch Parkinson –, sind die Prognosen null bis drei Jahre schwerbehindert, Lebenserwartung ist sechs bis neun Jahre. Bei mir ist die Erwartung etwas besser, weil ich jünger bin.

Was wird passieren? Zuerst werde ich nicht mehr gehen können. Das Problem ist der Blutdruck: Wenn ich aufstehe, gleicht er sich nicht an, und ich kann das Gleichgewicht nicht halten. Das passiert jetzt schon, aber dadurch, dass ich in meinem Leben immer etwas gemacht habe, kann ich es noch ausgleichen. Menschen, die weniger Sport gemacht haben, fliegen einfach um. Ohne Reaktion. Wenn ich sitze, ist der Blutdruck bei schönen 120 zu 80, wenn ich aufstehe, sinkt er rapide. Später wirkt sich die Krankheit auf die nicht willkürliche Muskulatur aus: Atmung, Verdauung, Herzschlag. Bei Parkinson ist die Forschung schon viel weiter. Wenn du es dir aussuchen kannst, Parkinson oder MSA, ist MSA der Griff ins Klo.

Für das Gespräch haben wir uns zurückgezogen. In den großen Besprechungsraum.
"Möchtest du etwas trinken?", fragt Nader und verschwindet in der Küche.
"Ja gerne, ein Wasser."
Mein Blick wird immer wieder auf die lange Wand gezogen. Poster, Medaillen, Zeitungsausschnitte: die Wiener Boxgeschichte.
"Kannst du mir bitte ..."
Es ist nicht nur der Sport, der den Raum ausfüllt. Es sind Gedanken über Endlichkeit, über Schicksalsschläge, über Familie, über Krankheit. Ich schweife ab, will nicht unempathisch, aber auch nicht mitleidig wirken.
"Hallo! Kannst du mir bitte helfen?", hallt es aus der Küche, die nur ein paar Meter weiter ist.
"Oh Gott, ja, sorry."
"Danke, wenn ich das Wasser selbst trage, verschütte ich alles."

Ich weiß noch, es war in London, 2020, vor dem ersten Lockdown. Die Olympiaqualifikation stand an, es war ein immens wichtiges Event für uns und die Athleten. Das große Ziel, wir haben vier, fünf Jahre darauf hingeabeitet. Dann kam der Lockdown, und alle dachten, die Welt geht unter, niemand kannte sich aus, niemand wusste etwas. Eine richtig hektische Zeit. Da fühlte ich mich plötzlich immer wieder müde. Ich habe mir nicht viel dabei gedacht. Manchmal, wenn ich versucht habe, den Schlüssel ins Loch zu stecken, bin ich daneben gefahren – dann ging es plötzlich wieder. Ich schob es auf die Hektik, den Stress, die Umstände. Wir sind mit dem letzten Flug aus London rausgekommen, dann war hier Lockdown. Und alles ist runtergefahren. Der Alltag, das Leben stand still – und ich war so entspannt wie noch nie. Deshalb habe ich nicht gemerkt, dass etwas nicht stimmt.

Während eines Trainingslagers in Deutschland, später im Jahr, kam die Müdigkeit wieder. Ich hatte quasi immer einen Kater, so, als ob ich am Vorabend gesoffen hätte. Ein Drei-Kilometer-Lauf hat sich angefühlt wie ein Marathon. Und ich dachte mir: "Das gibt’s ja nicht." Dann bin ich schwer an Corona erkrankt. Von da an war der Schwindel immer da. Zwar leicht, aber er war immer da.

"Einsam fühle ich mit der Krankheit eigentlich nie."
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Weiß man nichts über Naders Gesundheitszustand, könnte man glauben, er wäre betrunken. Die Artikulation verschwimmt manchmal zwischen den Wörtern. Zwar versteht man ihn auch ohne große Mühe, aber man merkt, wie er sich selbst zwischendurch müht. In den Augen erkennt man selten eine Sehnsucht nach Normalität.

Der erste Neurologe hat mir gesagt, dass ich mir keine Sorgen machen müsse – keine Grunderkrankungen, die Nervenbahnen sind beleidigt, alles gut. Alles leiwand, wir sind erleichtert. Und dann wurde es immer schlimmer. Auch die Zweitmeinung lautete: Keine Probleme, machen Sie sich keine Sorgen.

Irgendwann glaubt man seinem eigenen Körper nicht mehr. Man glaubt, man wird verrückt. Bin ich ein Hypochonder? Bilde ich mir das alles nur ein? Dann der Marathon: zum Internisten, wieder zurück zum Neurologen, zum anderen Neurologen, zum Spezialisten, Tests, Untersuchungen, Unsicherheit, Ungewissheit. Dann konnte ich nicht mehr laufen.

Da sitzt ein Mann, der sich seinem Schicksal keinesfalls ergeben hat, aber der es akzeptiert hat. Manchmal schweife ich wieder auf die Wand mit dem Sport, mit den Erfolgen, mit den Gürteln und Promotionpostern. Nicht aus Desinteresse, sondern aus Scham vor dem Moment, aus Angst vor einer vielleicht blöden, vielleicht taktlosen Frage.

Schließlich sind sie draufgekommen. Nach einem stationären Aufenthalt in der Klinik Donaustadt, bei dem ich durchgecheckt wurde, kam das Ergebnis: Herr Nader, Sie leiden an MSA mit atypisch Parkinson. Es war niederschmetternd. Aber gleichzeitig wusste ich auch, dass ich in der Spur bleiben muss: Ich habe Verantwortung, Angestellte, Familie. Ich muss zumindest den Übergang schaffen. Null bis drei Jahre, bis ich schwerbehindert bin? Okay, wenn es länger dauert, sind wir froh, aber ich habe diesen Zeitraum, um alles zu regeln, meine Sachen auf Vordermann zu bringen und einen flüssigen Übergang zu schaffen.

Coach Nader, wie man ihn kennt: coachend.
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Noch vor unserem Gespräch verabschiedet sich ein Athlet. Er fährt zu einem Event auf den Balkan. Serbien. Es ist zu spät für sportliche Tipps. Nader sagt: "Lass dich auf nix ein. Bleib cool."

Früher bin ich meinen Athleten nachgelaufen. Auch wenn es offensichtlich war, dass sie sich nicht voll auf den Sport konzentrieren. Du musst ins Training, du musst zur Schule, du musst das und das machen. Das habe ich deutlich reduziert. Ich habe einfach nicht mehr die Energie, jemandem zu erklären, was richtig oder falsch ist. Ich versuche, meine Zeit, die ich noch habe, zu hundert Prozent zu nutzen: für Athleten, die wirklich boxen wollen. Denn was mir ausgeht, ist die Zeit.

Ich träume oft davon, dass ich aufstehe und merke, das ist alles nur ein Traum. Es klingt vielleicht banal, aber ich will einfach nur aufstehen ohne den Schwindel. Ohne das Drehen. Nur aufstehen, und alles ist normal.

Die Krankheit ist für mich ein unschlagbarer Gegner. Wurscht, was ich tue, egal wie ich kämpfe, sie geht nicht mehr weg. Das zu wissen ist irrsinnig schwierig. Aber ich habe es akzeptiert und versuche jetzt, den Kampf so lange wie möglich hinauszuzögern und zu verlängern. Das Ziel ist jetzt, meinen zwei Kindern, meiner Familie etwas zu hinterlassen. Keinen Scherbenhaufen. Und damit muss man sich eher früher als zu spät auseinandersetzen.

Adrian, Naders Sohn, kommt in den Raum, er wirkt ein wenig schüchtern, ist für einen Zwölfjährigen aber ausgesprochen höflich. Adrian lächelt. Er muss los. Zum Fußball. Ado, wie ihn Nader nennt, ist Tormann, und sein Team spielt am Nachmittag ein Freundschaftsmatch gegen Slovan. Werden sie gewinnen? "Na ja, es wird schwierig, viele sind nicht da."

Ich nehme täglich rund zehn Tabletten. Meine Woche ist durchgetaktet: Akupunktur, Physiotherapie, Psychologe – und der Alltag im Bounce. Einsam fühle ich mich mit der Krankheit nicht, aber manchmal vergisst mein Umfeld, wie es mir geht. Zum Beispiel, wenn mein Bruder Marcos die Stiegen raufrennt und ich dahinter damit kämpfe, dass es mich nicht verkehrt runterprackt. Oder wenn wir spät dran sind und er zu mir sagt: "Komm, wir müssen Gas geben", und ich zehn Minuten brauche, um mir die Schuhe zuzubinden.

Marcos und Daniel Nader fanden früh zum Boxsport.
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Der Boxsport hat mich irgendwo gerettet. Ich kam damals mit meinen Eltern während der Balkankrise aus Spanien nach Wien. In eine Schule in Ottakring. Es war wild. Ich habe nur Spanisch gesprochen und Deutsch im Dialekt, es gab ständig Probleme, ständig haben wir Blödsinn gemacht, Raufereien, Streitereien. Bis mein Vater gesagt hat: Stopp, es reicht, ich steck dich in einen Boxklub. Das hat mir Stabilität gegeben. Zu meinem Bruder Marcos habe ich dann gesagt: "Zu Hause wirst eh nur blad, komm mit." So sind wir beide zum Boxen gekommen. Mehr als die Hälfte meiner Bekannten von damals sind entweder im Gefängnis oder sind Verbrecher. Wir hatten gar keine Zeit mehr für Blödsinn. Schule und Sport, mehr gab es nicht. Die Boxklubs sind so wichtig für das Land. Nicht nur wegen des Sports, sondern weil sie Stabilität und eine Gemeinschaft bieten.

Es gibt Dinge, die mir besonders fehlen. Das Autofahren zum Beispiel. Früher habe ich es gehasst, aber jetzt: Ich kann gar nicht sagen, wie sehr es mir abgeht. Ich kann eigentlich noch fahren, aber die Versicherung würde nicht mehr einspringen. Und was ich am wenigsten brauche, ist, dass ich jemanden zusammenführ'. Das wär eine komplett vertrottelte Aktion. Was mir noch abgeht, ist einfach rauszugehen. Ohne Wackler, ohne zu stolpern, ohne dass die Leute denken: "Wahnsinn, der ist um die Uhrzeit schon so ang'soffen." Oder einfach nur laufen. Ich will einfach nur laufen. Durch eine Allee, durch einen Park. Es sind ganz simple Dinge, die jeder kann. Aber wenn du sie plötzlich nicht mehr kannst, willst du nichts anderes mehr. (Andreas Hagenauer, 24.12.2023)