Schon Anfang September hatte der 20-jährige Tschetschene den Wiener Handyshop unmaskiert betreten, bevor er im Nachgang mit einem Molotowcocktail die Eingangstür des Shops beschädigt hatte.
Illustration: Armin Karner

Mit ihm hatten die Ermittler leichtes Spiel. Als heuer im September vier Jugendliche in schwarzer Kleidung und mit Messern bewaffnet einen Handyshop in Wien überfielen, war es ein 20 Jahre junger Tschetschene, der als Einziger unmaskiert blieb. Er betrat das Meidlinger Geschäft in Joggingklamotten, mit einer Kappe auf dem Kopf, die Kapuze seines Pullis straff darüber gezogen. Das Gesicht blieb unbedeckt. Die Überwachungskamera hatte den Tschetschenen eindeutig erkennbar eingefangen. Ein Selfie auf einem später sichergestellten Smartphone reichte aus, um ihm einen schweren Raub anzulasten.

"Es war mir egal, dass ich gesehen werde", sagte der Tschetschene in seiner Polizeieinvernahme. Messer und Masken für seine Kollegen habe er selbst besorgt. Bei dem Raub ließen die mutmaßlichen Täter zwei iPhones im Wert von 610 Euro mitgehen und zertrümmerten drei Vitrinen. Der afghanische Geschäftsinhaber vertrieb die vier Burschen letztlich mit einem Holzstecken.

Es sollte einer von vier Angriffen im September sein, mit denen eine neunköpfige Meidlinger Jugendbande im Alter von 14 bis 20 Jahren besagten Handyshop terrorisierte. Manche warfen Molotowcocktails oder ließen Böller hochgehen, um den Shop zu beschädigen. Die Burschen setzten den Betreiber des Geschäfts sogar mit einem Erpresserschreiben unter Druck, dem sie eine Patrone beigelegt hatten. Mutmaßlich, um Schutzgeld einzutreiben – DER STANDARD berichtete. Es gilt die Unschuldsvermutung.

"Ich wusste, dass ich ins Gefängnis geh"

Der 20-jährige Tschetschene spielt seine Taten gar nicht erst herunter. Er gibt unumwunden zu, für einen der beiden Molotowcocktailanschläge – konkret am 8. September – verantwortlich gewesen zu sein. Er will dabei allerdings allein und ohne Auftrag gehandelt haben. "Ich habe das einfach so getan", sagte er aus.

Ebenso macht der nunmehrige Untersuchungshäftling kein Geheimnis daraus, worum es ihm ging: Schutzgelderpressung. "Ich habe mich im (sic!) Youtube informiert und habe dann gedacht, ich probiere das auch." Er habe dem Betreiber des Handyshops zunächst Angst einjagen wollen, um ihn dann zu "fragen, was er so verdient, und nach dem hätte ich ihm ein Angebot für Schutz gemacht".

Die Hälfte von dessen Lohn habe der Tschetschene so "erpressen" wollen. Aber daraus wurde nichts. "Ich wusste, dass ich ins Gefängnis geh, das war mir egal", sagte der 20-Jährige. "Vor dem Gefängnis habe ich keine Angst."

Pläne für Ausreise nach Palästina

Wie aus dem mehr als 3.000 Seiten dicken Ermittlungsakt hervorgeht, dürfte der Tschetschene aber nicht nur eine kriminelle Ader haben. Laut dem Ergebnis eines Islamismus-Screeners gilt er als fortgeschritten radikalisiert.

Besonders brisant liest sich, dass sich der Verdächtige angeblich "ein paar Mal" mit der Idee beschäftigt haben soll, in palästinensische Gebiete auszureisen, "um gegen Israel zu kämpfen". Auslandskämpfer aus Europa sind im Nahostkonflikt äußerst ungewöhnlich. Ob die Überlegungen des Tschetschenen auch mit den neu aufgeflammten Kriegshandlungen zwischen Israel und und der Hamas seit dem 7. Oktober in Zusammenhang stehen, ist in den Akten jedoch nicht überliefert.

Zu den Hochrisikofaktoren des Tschetschenen zählen zudem sein früherer Waffenbesitz, sein Zugang zu Waffen innerhalb der Schutzgeldbande sowie sein angeblich extremistisches Umfeld. Zumindest einer seiner möglichen Komplizen könnte ebenso radikalisiert sein, heißt es in der Analyse.

"Volltrottel" und "Missionar"

Zur Gruppe sollen sogar drei IS-Sympathisanten gehören, die in den Jihad ziehen wollen. Diese vage Vermutung wiederum gab einer der Beschuldigten selbst vor Ermittlern zu Protokoll. "Jeder, der so einen Gedanken hat, ist in meinen Augen ein Volltrottel", entgegnete der Tschetschene der Aussage eines mutmaßlichen Mitstreiters vor Polizisten.

Der Verdächtige machte auf die Jugendgerichtshilfe auch den Eindruck eines "selbsternannten Sittenwächters". Er würde Paare, die sich in der Öffentlichkeit küssen, offensiv ansprechen, habe er erzählt. Das sei aus seiner Sicht nicht erlaubt. Er würde Paare beschimpfen, bedrohen und vielleicht sogar zuschlagen – und "mit dem Telefon der fremden Personen deren Vater oder Bruder über das 'Fehlverhalten' informieren".

Innerhalb der Gefängnismauern soll sich der 20-Jährige zudem als "Missionar" aufspielen. Es sei ihm sehr wichtig, dass die anderen Insassen "richtig" beten würden. Außerdem sei er in Haft dadurch aufgefallen, dass er aus dem Zellenfenster heraus Nasheeds (islamische Hymnen Anm.) mit islamistischem Inhalt in unterschiedlichen Sprachen gesungen habe. Dem Untersuchungshäftling steht wohl ein Deradikalisierungsprogramm bevor.

Aber was wurde eigentlich aus den gestohlenen iPhones? Darüber rätseln die Ermittler noch. Ein anderer Beschuldigter in der Causa machte jedenfalls zwei Bilder von den besagten Smartphones und schickte sie dem Tschetschenen. "Er meinte, dass ich einen Kunden finden soll", sagte der 20-Jährige aus. Die Hälfte des Verkaufspreises sei für ihn vorgesehen gewesen. Aber er selbst habe angeblich nie wirklich einen Abnehmer dafür gesucht. Seine drei Komplizen "hätten einfach nur alles kaputtschlagen sollen und nicht Handys stehlen".

Dem Tschetschenen werden mehrere Delikte angelastet: schwerer Raub, Sachbeschädigung, schwere Erpressung und Teil einer kriminellen Vereinigung zu sein. In Summe droht dem 20-Jährigen eine Freiheitsstrafe von bis zu fünfzehn Jahren. Der Mindestsicherungsbezieher ist wegen Körperverletzung vorbestraft.

Strafmildernd wirkt wohl, dass sich der Verdächtige weitgehend geständig zeigt. Eine führende Rolle in der Meidlinger Schutzgeldbande will der Tschetschene nämlich nie gehabt haben, obwohl er "Läufer" für Aktionen gehabt haben will und andere angesprochen habe, um etwa beim Überfall auf das Geschäft mitzumachen. Die Verständigung eines Verteidigers oder des rechtsanwaltlichen Journaldienstes lehnte er vor seiner Inhaftierung ab. (Jan Michael Marchart, 27.12.2023)