Michael Landau im Gespräch im Schlafsaal der
"Es ist mir tatsächlich einmal die Frage passiert, ob ich in die Politik gehen möchte": Michael Landau, Priester und Präsident der Caritas Europa.
Regine Hendrich

Ein kalter Dezembertag in Wien, Michael Landau hat jüngst sein Amt als Caritas-Österreich-Präsident abgegeben. Ein Gespräch im Schlafsaal der "Gruft", wo die Caritas Obdachlose betreut.

STANDARD: Zunächst etwas zum Aufwärmen, aus den "Fragenbögen" von Max Frisch*. "Was ertragen Sie nur mit Humor?"

Landau: Wenn Menschen nicht und nicht zu einem Ende finden.

STANDARD: "Gesetzt den Fall, Sie glauben an einen Gott. Kennen Sie ein Anzeichen dafür, dass er Humor hat?"

Landau: Ich bin überzeugt, dass er jede Menge Humor hat. Mehr als wir manchmal. Ich kann das aber nicht an einem Anzeichen festmachen. Jedenfalls ist die Schöpfung etwas sehr Gelungenes, das wir mitunter verpatzen.

STANDARD: Sie meinen, er habe schon Humor bewiesen, indem er überhaupt etwas geschaffen hat?

Landau: Spannende Frage. Probieren wir eine nächste.

STANDARD: Noch einmal Frisch: "Was fürchten Sie mehr: das Urteil von einem Freund oder das Urteil von Feinden?"

Landau: Zunächst fürchte ich gar kein Urteil. In jeder Einschätzung eines anderen lerne ich etwas über mich. Aber je näher mir Menschen stehen desto mehr rührt mich ihr Urteil auch innerlich an.

STANDARD: Wer sind denn Ihre Feinde?

Landau: Ich von mir her habe keine Feinde. Aber in die andere Richtung: Manchmal ist der Applaus enden wollend, wenn wir auf Armut, Not oder Unrecht hinweisen. Aber wenn wir von der Caritas, die wir jeden Tag mit wohnungslosen, pflegebedürftigen oder behinderten Menschen zu tun haben, nicht daran erinnern, dass es das alles gibt und dass wir uns damit nicht abfinden dürfen: Wer soll es dann machen? Auch Reibung ist eine Form von Energie.

STANDARD: Als Sie 2019 den Bruno-Kreisky-Menschenrechtspreis bekamen, nannte Sie Michael Köhlmeier in der Laudatio einen "versöhnlich Unversöhnlichen". Sind Sie unversöhnlich?

Landau: Ich fand dieses Bild spannend, weil ich bei Themen, von denen ich überzeugt bin, sehr beharrlich sein kann. Mein Bruder würde sagen, ich kann ziemlich stur sein.

STANDARD: Köhlmeier sagte auch, er wäre gern Ihr Freund. Da passt noch eine Max-Frisch-Frage: "Sind Sie sich selbst ein Freund?"

Landau: Ich kann mich gründlich über mich selbst ärgern. Etwa, wenn ich gröber bin, als ich es sein müsste, vor allem zu lieben Menschen. Das kommt vor.

STANDARD: Und korrigieren Sie sich dann selbst, wie es ein Freund täte?

Landau: Es ist eine permanente Aufgabe, sich auch ein Stück weit mit sich selbst zu versöhnen, mit den eigenen Unzulänglichkeiten.

STANDARD: Warum fällt uns das so schwer?

Landau: Weil es etwas Abstand von uns selbst voraussetzt. Aber grundsätzlich weiß ich, dass ich in meinem Leben extrem viel Glück habe. Wir hier in Österreich haben in der Geburtsortlotterie einen Haupttreffer gezogen, das gerät oft aus dem Blickfeld. Als Präsident der Caritas Europa sehe ich, wie es anderswo ist und wie gut es uns geht. Das ist nicht selbstverständlich, ebenso wie ein funktionierender Sozialstaat, der ein hoher Wert ist und den wir uns über Generationen erarbeitet haben mit viel Herzkraft, Energie und Einsatz. Das alles ist uns anvertraut, unsere Verpflichtung ist es, das weiter zu tragen. Damit auch die nach uns die Möglichkeit haben, Lebensrisken gemeinsam zu tragen und die Energie und die Freiheit, Gegenwart und Zukunft gut zu gestalten.

STANDARD: Hat Sie jemals wer gefragt, ob Sie Sozialminister werden wollen?

Landau: Es ist mir tatsächlich einmal die Frage passiert, ob ich in die Politik gehen möchte, da war ich schon länger für die Caritas tätig. Mein Vorteil war, dass man als Priester nicht in die Politik gehen soll, daher währte die Versuchung nur Augenblicke lang.

STANDARD: Würde Sie die Politik interessieren?

Landau: Politik ist die Gestaltung der öffentlichen Angelegenheit und die ist ein ganz zentraler Dienst der Nächstenliebe. Darauf zu schauen, wie Zusammenleben funktioniert, sodass alle faire Chancen haben, möglichst niemand auf der Strecke bleibt, das ist ein wesentliches Element von Politik und das halte ich für extrem spannend. Und daran versuche ich mitzuwirken – von meiner Stelle aus. Wenn ich mir andererseits den politischen Alltag anschaue, bin ich nicht spontan überzeugt, dass es ein großer Reiz wäre, für irgendjemanden antreten zu wollen. Ich bin viel lieber für jene Leute im Einsatz, um die wir uns in der Caritas kümmern, als für eine politische Partei.

STANDARD: Manchen gilt die Caritas als linker Flügel der katholischen Kirche. Ist sie das?

Landau: Das Evangelium ist kein Parteiprogramm, wir sind weder rot, grün, blau, pink, schwarz noch sonst was, wir sind eine Hilfsorganisation mit dem Bemühen, uns für konkrete Menschen einzusetzen und ungerechte Strukturen zu verändern.

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Kardinal Christoph Schönborn und der damalige Bundeskanzler Sebastian Kurz trafen einander am 22. Dezember 2020 zu einem Gedankenaustausch im Erzbischöflichen Palais in Wien.
APA/BKA/Dragan Tatic

STANDARD: "Die Caritas hat sich zu einer Initiative entwickelt, die für das christliche Füreinander in Österreich Maßstäbe gesetzt hat, die nicht wegzudenken sind." Wer hat das gesagt?

Landau: Könnte der Kardinal gewesen sein.

STANDARD: Sebastian Kurz Mitte der 2010er. Als die Caritas die Asylpolitik von Türkis-Blau kritisierte, stellte Kurz die "Steuerprivilegien" der Kirche auf den Prüfstand, wie wir aus Chats wissen.

Landau: Ich glaube, Sebastian Kurz war einmal ein guter Integrationsstaatssekretär. Ich werde nicht vergessen, wie wir in der Wiener Brunnenpassage "Brunnhilde" besucht haben, ein Projekt für weibliche DJs aus migrantischen Kommunitäten. Er hat sich dort sehr gut vertragen mit einer Dame, die vollverschleiert war. Er war damals vor zehn Jahren ein guter Integrationsstaatssekretär und ist heute offenbar ein erfolgreicher Geschäftsmann.

STANDARD: Jetzt sitzt er gerade vor dem Strafrichter. Hat es Sie überrascht, was man alles erfuhr aus diversen Chats?

Landau: Ich entnehme der aktuellen Berichterstattung, dass damals viele Chats geschrieben wurden, mit erstaunlich vielen Emojis. Ich mag weder SMS noch Emojis kommentieren.

STANDARD: Ist die ÖVP christlich-sozial?

Landau: Ich glaube, dass es in nahezu jeder politischen Partei Anknüpfungspunkte daran gibt, was uns als Caritas wichtig ist. Jede Partei hat es selbst in der Hand, ihre Nähe oder ihren Abstand zu definieren. Wir tun das nicht, wir machen unsere Arbeit. Wir setzen uns ein für Menschen an den Rändern der Gesellschaft und des Lebens und kümmern uns darum, dass die Dinge, die der Gerechtigkeit geschuldet sind nicht als Liebesgabe angeboten werden. Ob sich eine Partei dem näher oder ferner fühlt oder gar nicht, ist ihre Entscheidung. Ich bin aber sehr für das Gespräch, und unsere Haltung ist klar: So viel Zusammenarbeit wie möglich, so viel Kritik wie nötig – und das gilt für alle.

STANDARD: Sie wuchsen in Wien-Währing wohlbehütet auf, gingen ins BRG Schopenhauer Straße, wo übrigens auch Ex-WU-Rektor, Fiskalratschef Christoph Badelt, maturiert hat.

Landau: Ja, wir haben in der gleichen Gasse gewohnt, sein Bruder war Generalsekretär, als ich bei der Caritas Wien begonnen habe.

STANDARD: Wie begann Ihr soziales Engagement? Sie haben ja zunächst Biochemie studiert.

Landau: Der Grundstein dafür wurde von meinen Eltern gelegt. Biochemie studierte ich, weil ich einige Chemieolympiaden gewonnen hatte. Mir kam immer wieder der Gedanke, Priester zu werden, aber ich dachte: blöde Idee, ausgerechnet. Dann begann ich, während ich die Dissertation schrieb, Theologie zu studieren. Ich dachte: Voraussichtlich stellt es sich als wirklich langweilig heraus, und dann ist es sehr gut, sein Leben nicht damit zu verbringen. Wider Erwarten war es spannend.

STANDARD: Ihre Mutter war katholisch, Ihr Vater jüdisch, Sie ließen sich mit 20 taufen. Sie sagten einmal in einem Interview, das Judentum sei keine Option für Sie gewesen. Warum denn nicht?

Landau: Ich glaube, dass man sich in wesentlichen existenziellen Fragen irgendwann im Zustand der Entschiedenheit wiederfindet. Da weiß man, was für einen passt.

Jüdische Flüchtlinge auf einem Schiff Richtung Shanghai
Landaus Vater und seine Familie flüchteten 1939 nach Schanghai; hier sind jüdische Auswanderer im Hafen von Hongkong zu sehen, die dasselbe Ziel hatten.
Ullstein Bild - Wolfgang Weber

STANDARD: Ihr Vater und seine Familie flohen 1939 nach Schanghai, auf einem Schiff namens Conte Biancamanu. Teile davon sind in einem Museum in Mailand ausgestellt, haben Sie sich das je angeschaut?

Landau: Nein, dort war ich nicht. Aber bei der Ausstellung im Jüdischen Museum über die Auswanderer nach Schanghai gab es einige Familienstücke von meinem Vater, und seine Geschichte kommt auch im Katalog vor. Ich habe bei der Eröffnung ein paar Worte gesprochen, das ist ein wichtiger Teil meiner Geschichte und Realität. Für viele war Schanghai der letzte Ort, an den sie sich retten konnten, weil es eine offene Stadt war.

STANDARD: Als Bub waren Sie im jüdischen Sportverein Hakoah aktiv und gewannen oft im 100-Meter-Brustschwimmen.

Landau: Ich war trainieren und hab das gern getan. Aber das ist wirklich schon lange her.

STANDARD: Sie sind fast 30 Jahre für die Caritas tätig. Könnte man sagen, Sie sind ein Lobbyist fürs Soziale?

Landau: Man kann das so nennen. Es geht um soziale Realität, Armut ist auch in Österreich ein Stück Realität. Die Bundesregierung wäre gut beraten, das nicht kleinzureden, bei allem, was an Positivem geschehen ist. Wir sollten auch für Zuversicht und Hoffnung werben, denn die Caritas begleitet Menschen auch dabei, auf eigenen Beinen zu stehen, und wir erinnern sie daran, dass sie nicht vergessen sind. Wir verstärken den Zusammenhalt in der Gesellschaft, wenn wir daran erinnern, dass das eigene Leben besser gelingt, wenn wir die Augen aufmachen und schauen, wie es den anderen rund um uns geht.

STANDARD: Überall driftet die Gesellschaft aber auseinander, Populisten feiern Siege. Sie selbst mahnen Mut zum Gegensteuern ein. Würde das reichen?

Landau: Zusammenhalt ist Voraussetzung und Ergebnis guter Politik. Es gilt, den Wert des Kompromisses und eines respektvollen Umgangs wieder anzuerkennen. Das macht mir Sorge, wird doch in naher Zukunft in etlichen Ländern gewählt. Da wird sich zeigen, ob Vernunft, Verstand und Mitte einer Gesellschaft stark genug sind, den gefährlichen Rändern der Polarisierung Widerstand zu leisten.

STANDARD: Sorgen Sie sich auch um Österreich? Auch hier wird 2024 eine neue Bundesregierung gewählt.

Landau: Die Caritas hat unter jeder Regierung die gleiche Aufgabe: Not sehen und handeln. Da werden wir weiterhin gefordert sein. Ich habe aber Sorge, dass der Wahlkampf genutzt werden wird, zu polarisieren und Ängste zu schüren. Und nichts hemmt solidarisches Handeln so sehr wie Angst. Für Achtsamkeit und Respekt zu werben wird daher nächstes Jahr sehr wichtig werden. Dazu gehört auch, nicht alles vom Tisch zu wischen, was der jetzigen Regierung gelungen ist. Wer so tut, als ginge das Land jetzt den Bach hinunter, befördert das Geschäft von Populisten.

STANDARD: Die Armut ist aber schon gestiegen?

Landau: Für viele ist es heute extrem schwer, den Alltag zu bewältigen. Ich sehe das in unseren 71 Sozialberatungsstellen, bei den Erstberatungen haben wir einen Zuwachs um 50 Prozent. Ich sehe das bei den Lebensmittelausgabestellen, bei den Schlangen vor unseren Suppenbussen. Wir messen die Inflation nicht in Prozent, sondern in Metern – da dürfen wir nicht wegschauen. Ich habe unlängst mit einer Mindestpensionistin gesprochen, die mir erzählte, sie habe ihr ganzes Leben lang gearbeitet, und nun müsse sie sich um Lebensmittel anstellen. Es kann nicht das Ende der Fahnenstange sein, dass hochbetagte Menschen, die immer gearbeitet haben, sich am Ende ihres Lebens bei der Caritas oder sonst wo um Lebensmittelpakete anstellen müssen. Deswegen werden wir mit einer gewissen Beharrlichkeit weiter darauf hinweisen müssen, dass die Mindestpension, die Ausgleichszulage substanziell erhöht werden muss. Bei aktuellen Themen wie der Signa-Pleite geht es um Milliarden, und man kann davon ausgehen, dass auch etwas am Steuerzahler hängen bleibt. Und wenn ich dann sehe, wie viel Neid es auslöst, wenn man will, dass Mindestpensionisten um 100 oder 200 Euro mehr bekommen sollen im Monat, damit sie besser zurechtkommen, dann entwickle ich einen gewissen Ärger. Da sind die Maßstäbe durcheinandergekommen. Ein armutsfestes Arbeitslosengeld ist notwendig, die Notstandshilfe muss valorisiert werden, und wir müssen die Kinderarmut bekämpfen. An einer Reform der Sozialhilfe hin zu einem sinnvollen Mindestschutz, der Menschen nicht in Verzweiflung zurücklässt, führt kein Weg vorbei.

Bedürftige stellen sich bei einer Essensausgabe der Samariter an.
Essensausgabe der Samariter, Landau fordert Reformen bei der Sozialhilfe ein.
Christian Fischer

STANDARD: Weil Sie die Signa-Pleite erwähnt haben: Sie sagen, nicht Mensch und Wirtschaft seien das Übel, sondern die menschliche Gier und Habsucht. Ist das so?

Landau: Es ist genug für alle da, aber nicht für jedermanns Gier. In der Finanzkrise wurden Banken gerettet, weil sie too big to fail waren, und in der Corona-Krise hieß es: Koste es, was es wolle. Beides war wohl richtig. Aber dann erwarte ich auch, dass jetzt auf die Leute Bedacht genommen wird, die unter dieser Krise leiden. Denn auch diese Menschen sind too big to fail. Es gibt viele Unternehmerinnen und Unternehmer, die viel soziales Verantwortungsgefühl zeigen. Aber in Einzelfällen zeigt sich auch: Die Gier ist ein Luder.

STANDARD: Meine vorletzte Frage ist wieder aus dem Max-Frisch-"Fragebogen": "Was stört Sie an Begräbnissen?"

Landau: Wissen Sie, ich habe Begräbnisse gar nicht ungern geleitet. Denn die Kirche hat gerade in dieser Situation ein tragfähiges Wort zu sagen: Nicht der Tod hat das letzte Wort, sondern das Leben. Daran zu erinnern, halte ich für einen wichtigen Dienst. Außerdem stellt uns die Erinnerung an unsere eigene Endlichkeit die Frage: Lebe ich schon so, wie ich am Ende meiner Tage gelebt haben möchte? Und wenn nicht: Wann wäre es an der Zeit, das zu ändern, wenn nicht heute? Diese zuversichtliche Ernsthaftigkeit kann einem aufgehen bei einem Begräbnis.

STANDARD: Also kein Störfaktor. Das führt mich zur letzten Frage: Worum geht's im Leben?

Landau: Darum, die Welt ein bisschen schöner, fröhlicher, heller, zukunftstauglicher zurückzulassen, als wir sie vorgefunden haben. Wir können und sollen etwas ändern. Und es geht auch darum, einen Beitrag zu leisten, dass die Gesellschaft gerechter wird, für alle. Der Maßstab dafür sind die Menschen an den Rändern des Lebens und der Gesellschaft. (Renate Graber, 25.12.2023)