Jerusalem/Gaza - Nach dem Tod eines Jugendlichen ist es im Süden des Gazastreifens zu Protesten wütender Palästinenser gegen die islamistische Hamas gekommen. Augenzeugen berichteten am Sonntag von Unruhen in der Grenzstadt Rafah. Daran seien Dutzende Menschen beteiligt gewesen. Hintergrund waren Vorwürfe, bewaffnete Hamas-Mitglieder hätten auf eine Gruppe junger Männer geschossen, die im Grenzgebiet zu Ägypten humanitäre Hilfsgüter ohne Erlaubnis an sich bringen wollten.

Dabei seien ein Jugendlicher getötet und weitere Menschen verletzt worden. Bei den Protesten wurde den Berichten zufolge auch eine Polizeistation der Hamas im Flüchtlingslager Tel al-Sultan angezündet.

Warten auf Essensausgabe in Rafah
Warten auf Essensausgabe in Rafah
IMAGO/Bashar Taleb\ apaimages

Die humanitäre Lage im Gazastreifen wird angesichts der israelischen Militäroffensive in dem schmalen Küstenstreifen immer katastrophaler. Es kommt zu Plünderungen und chaotischen Szenen bei der Verteilung von Hilfsgütern. Der UN-Sicherheitsrat hat in einer Resolution eine Aufstockung der humanitären Hilfe verlangt. Israel besteht auf einer Kontrolle der Lieferungen, um Waffenschmuggel zu verhindern. Zugleich betont die Regierung in Jerusalem, die Inspektionen behinderten die Lieferungen nicht. Vielmehr würden die UN-Organisationen bei der Verteilung der Hilfsgüter im Gazastreifen versagen. Die UN weisen wiederum darauf hin, dass es unter Kriegsbedingungen kaum möglich sei, Güter weiter zu transportieren und zu verteilen.

Es gibt auch immer wieder Augenzeugenberichte, denen zufolge bewaffnete Hamas-Mitglieder Hilfslieferungen in ihre Gewalt bringen.

Leichen von fünf Geiseln geborgen

Die israelische Armee hat nach eigenen Angaben die Leichen von insgesamt fünf Geiseln aus einem Tunnelnetzwerk im nördlichen Gazastreifen geborgen. Die sterblichen Überreste der am 7. Oktober aus Israel verschleppten Männer und Frauen seien in einem sehr weitreichenden und tiefen Tunnelsystem im Bereich des Flüchtlingsviertels Jabalia gefunden worden, teilte das Militär am Sonntag mit. Laut "Jerusalem Post" waren zwei der Leichen bereits vor zwei Wochen gefunden worden.

Drei weitere seien einige Tage später entdeckt worden. Das Tunnelnetzwerk habe als Kommandozentrale der islamistischen Hamas im nördlichen Gazastreifen gedient, hieß es in der Mitteilung der Armee.

Armeeeinsatz ausgeweitet

Die israelische Armee hat ihren Bodeneinsatz im Gazastreifen am Wochenende nach eigenen Angaben ausgeweitet. Wie Armeesprecher Daniel Hagari am Samstagabend mitteilte, seien die Truppen in "komplexe Gefechte in dicht besiedelten Gebieten" verwickelt. Sie würden dabei in weitere Hochburgen der islamistischen Hamas vordringen. Bisher hätte die Bodentruppen etwa 30.000 Sprengkörper zerstört oder sichergestellt, darunter Panzerabwehrraketen und Raketen im Besitz der Hamas.

Bei einem israelischen Luftangriff auf das Flüchtlingslager Maghazi im Zentrum des Gazastreifens sterben nach palästinensischen Angaben mehr als 70 Menschen. Es sei wahrscheinlich, dass die Zahl noch weiter steige, sagt ein Sprecher der von der Hamas geführten Gesundheitsbehörde. Zudem seien zahlreiche Häuser beschädigt worden. Israel hat nach Angaben eines Militärsprechers bisher etwa 8000 palästinensische Kämpfer im Gazastreifen getötet. Die Zahl ergebe sich aus Zählungen nach gezielten Angriffen und Kämpfen am Boden sowie aus Verhören von Gefangenen.

"Terroristische Infrastrukturen"

Die Soldaten kämpften weiter in dicht besiedelten Gebieten wie der südlichen Stadt Chan Junis und spürten vor allem in den Tunneln im Untergrund "terroristische Infrastrukturen" auf, erklärte der Armeesprecher. Daher habe man die technischen Kräfte deutlich verstärkt. Die Kapazitäten der dort kämpfenden Division würden in den kommenden Tagen weiter ausgebaut. Die Zerstörung der Tunnel sei zeitaufwendig.

Unterhalb des Gazastreifens erstreckt sich über viele Kilometer ein ganzes Netzwerk aus Tunneln, in denen sich laut Israel etliche Terroristen der Hamas verstecken und dort auch Geiseln aus Israel festhalten. Um Israels Bomben aus der Luft widerstehen zu können, reichen manche Tunnel Dutzende Meter unter die Erde. Die Terroristen nutzen die Tunnel zugleich, um scheinbar aus dem Nichts aufzutauchen und hinterrücks anzugreifen. Viele der Tunnel sind mit Sprengfallen versehen, um israelische Soldaten, die dort eindringen, zu töten.

Auslöser des Krieges war der schlimmste Angriff in der Geschichte Israels, den Terroristen der Hamas sowie anderer extremistischer Gruppen am 7. Oktober nahe der Grenze zum Gazastreifen verübt hatten. Auf israelischer Seite sind in der Folge mehr als 1.200 Menschen getötet worden. Israel reagierte mit massiven Luftangriffen und begann Ende Oktober mit einer Bodenoffensive. Angesichts der katastrophalen humanitären Lage in dem abgeriegelten Küstengebiet war Israel zuletzt international immer mehr unter Druck geraten.

Biden fordert Schutz der Zivilbevölkerung

US-Präsident Joe Biden hat den israelischen Regierungschef Benjamin Netanjahu erneut zum Schutz der Zivilbevölkerung aufgerufen. Das Weiße Haus erklärte am Samstag, Biden habe in einem Telefonat mit Netanjahu die "Notwendigkeit" hervorgehoben, die Zivilbevölkerung zu schützen und den Menschen zu erlauben, sich vor Kampfhandlungen in Schutz zu bringen.

Es müssten auch jene geschützt werden, die an humanitärer Hilfe für das Palästinensergebiet beteiligt seien, sagte Biden demnach.

Netanjahus Büro erklärte nach dem Gespräch, der Regierungschef habe klar gemacht, dass Israel den Krieg fortsetzen werde, "bis alle Ziele erreicht wurden". Die US-Regierung hatte sich zuletzt zunehmend kritischer zu dem massiven Vorgehen der israelischen Armee geäußert. (APA, red, 24.12.2023)