Die Wiener Polizei wird weiterhin sowohl mit uniformierten als auch mit zivilen Kräften verstärkt in der Hauptstadt präsent sein.
APA/MAX SLOVENCIK

Am Tag vor Weihnachten herrschte in Österreichs Staatsschutz eine angespannte Betriebsamkeit. Seit Wochen schon lag etwas in der Luft. Und zwar nichts Gutes. Die heimische Jihadistenszene pulsierte wie schon lange nicht mehr. Das Gefahrenpotenzial stieg immer weiter an. Wohl auch ein Stück weit angetrieben durch die angespannte Lage in Nahost. Die wurde durch gezielte Desinformation auf Tiktok und Co zu einem immer gefährlicheren Treiber für Radikalisierung.

Vergangenen Samstag war dann endgültig Gefahr im Verzug. Eine mutmaßliche Jihadistengruppe – zwei Männer und eine Frau – wurde in einer Wiener Flüchtlingsunterkunft in Wien-Ottakring festgenommen. Sie soll einem transnationalen Terrornetzwerk angehören, das angeblich koordinierte Anschläge in Wien, Köln und Madrid geplant habe. In Österreichs Hauptstadt sei der Wiener Stephansdom ein potenzielles Ziel gewesen. Nach Informationen der Staatsanwaltschaft gebe es allerdings keine Hinweise darauf, dass ein Anschlag in Wien unmittelbar bevorstand.

Frage: Das ist verwirrend. Es wurde also eine mutmaßliche Jihadistenzelle ausgeforscht, und deren Mitglieder wurden festgenommen, obwohl kein Anschlag bevorstand. Wie passt das zusammen?
Antwort: Die Lage hat sich zugespitzt. Der Wissenstand in Österreich deutete schon lange darauf hin, dass Silvester zu einem neuralgischen Datum für mutmaßliche Anschlagspläne werden könnte. Schließlich verdichtete sich in Zusammenarbeit mit ausländischen Partnerdiensten die Information, dass der Wiener Stephansdom sowie der Kölner Dom in Deutschland zu einem Terrorziel hätten werden können – allerdings schon zu Weihnachten. Deshalb erfolgte umgehend der Zugriff der Sicherheitsbehörden. Auch in Köln kam es deshalb zu mehreren Festnahmen. Allerdings blieb dort nur einer davon, ein 30-jähriger Tadschike, in Gewahrsam. Vier Männer sind hingegen wieder auf freiem Fuß.

Frage: Was lässt sich bisher über die drei Verdächtigen sagen?
Antwort: Nicht viel. Die Sicherheitsbehörden halten tiefergehende Informationen aus ermittlungstaktischen Gründen bisher zurück. Immerhin steht der Silvestertag noch bevor. Die Staatsanwaltschaft präzisierte bloß, dass es sich bei den drei Verdächtigen um durchwegs erwachsene Personen handle. Es seien keine Jugendlichen darunter. Dem Vernehmen nach sollen die Festgenommen teilweise tadschikischer Abstammung sein und mit der Terrorgruppe "Islamischer Staat Provinz Khorasan" (ISKP) in Verbindung stehen, die der heimische Staatsschutz seit Monaten beobachtet. Das bestätigte die zuständige Justizbehörde vorerst noch nicht.

Frage: Wer steckt hinter dem "Islamischen Staat Provinz Khorasan"?
Antwort: Dabei handelt es sich um einen Ableger des "Islamischen Staates", der in weiten Teilen Afghanistans, Pakistans, Irans und Zentralasiens aktiv ist. Seitdem die zentrale Organisation der Terrormiliz in Syrien und im Irak 2019 als militärisch besiegt gegolten hatte, gewann der ISKP immer mehr an Stärke. Mittlerweile handelt es sich dabei um die mit angeblich mehreren Tausend Mitgliedern "weltweit stärkste" Gruppe der Jihadisten. Das hielt unter anderem der deutsche Islamwissenschafter Guido Steinberg in einer Analyse für die deutsche Stiftung für Wissenschaft und Politik fest. Diese Einschätzung deckt sich mit jener westlicher Dienste.

Mit den radikalislamistischen Taliban, die in Afghanistan nach dem Abzug des US-Militärs im August 2021 die Geschicke des Landes leiten, steht die Terrorgruppe des ISKP übrigens von jeher auf Kriegsfuß, da die Jihadisten der Meinung sind, "dass es nur einen islamischen Staat und einen rechtmäßigen Kalifen geben könne". Nach dieser Auffassung hätten sich die Taliban dem IS unterzuordnen. Die Herrscher Afghanistans denken aber gar nicht daran.

Frage: Die Gruppe operiert also in Afghanistan. Aber was hat alles mit Österreich zu tun?
Antwort: Die Terrorgruppe verübte in der Vergangenheit eine Reihe von Anschlägen in Afghanistan, vor etwa zwei Jahren beispielsweise einen auf den Flughafen in Kabul. Sorgen bereite den Staatsschützern der Umstand, dass der ISKP aber auch in Westeuropa das Ziel verfolgt, Anschläge zu begehen. Dafür bauen Terrorkader der Organisation in Afghanistan oft Kontakte zu IS-Sympathisanten in Europa auf, um sie anzuleiten. Die Spur führte dahingehend schon einmal nach Österreich.

Drei mutmaßliche Jihadisten im Alter von 15, 18 und 20 Jahren sollen heuer im Juni einen Anschlag auf die Wiener Regenbogenparade geplant haben. Allesamt waren sie zuvor in einer anonymen Telegram-Chatgruppe unterwegs, in der nicht nur internationale IS-Unterstützer gewesen sein soll. Staatsschützer rechnen die Gruppe dem ISKP zu. Der Jüngste im Bunde ließ sich über eine Messenger-App von einem unbekannten Jihadisten obendrein anleiten, wie man eine Bombe per Handy detonieren lassen könne. Ein letztgültiger Beweis für die angeblichen Anschlagspläne auf die Regenbogenparade steht allerdings noch aus.

Frage: Wie finanziert sich die Terrorgruppe eigentlich?
Antwort: Unterschiedlich. Laut Sicherheitsbehörden reichen die Einnahmequellen von Lösegeld für Entführungen bis zu Erpressungen. Der ISKP sammelt aber Spenden. Einen Großteil ihrer Einkünfte soll die Terrororganisation über den Drogenhandel beziehen, heißt es.

Frage: Und wie geht es jetzt für die drei Verdächtigen in Österreich weiter?
Antwort: Die drei mutmaßlichen Jihadisten bleiben erst einmal bis 8. Jänner in Untersuchungshaft. Dann wird die Situation neu bewertet. Währenddessen werten die Ermittlerinnen und Ermittler die sichergestellten Mobiltelefone aus, da sie sich weitere Hinweise für potenzielle Anschlagsvorbereitungen erhoffen. Das könnte sich allerdings schwierig gestalten. Auch Jihadisten operieren dieser Tage mit selbstlöschenden Nachrichten. Nicht auszuschließen ist, dass die angebliche Zelle noch größer ist, als bisher angenommen.

Eingangsbereich des Stephansdoms mit Passanten und zwei geparkten Polizeibussen.
Mittwochmittag war die sichtbare Polizeipräsenz vor dem Wiener Stephansdom bereits deutlich reduziert.
moe

Frage: Gab es in Wien besondere Sicherheitsvorkehrungen?
Antwort: Laut der Landespolizeidirektion wurden verstärkt uniformierte und zivile Streifen eingesetzt und neuralgische Punkte verstärkt überwacht. Wie viel mehr Personal im Vergleich zum Vorjahr eingesetzt wurde, will man aus einsatztaktischen Gründen aber nicht verraten. Nach den Feiertagen wurden die Maßnahmen reduziert, am Mittwoch standen nur noch drei Polizisten mit Sturmgewehren beim Eingang zum Stephansdom neben zwei Polizeibussen.

Frage: Was passierte in Deutschland?
Antwort: Dort scheint die Sorge größer gewesen zu sein. Der Kölner Dom ist außer bei Gottesdiensten noch immer geschlossen, Gläubige müssen mit Personenkontrollen rechnen, steht auf der Webpage des Sakralbaus.

Frage: Ließen sich die Gläubigen und Besucherinnen von der Situation beeindrucken?
Antwort: Nein, berichtet Oliver Steinringer von der Pressestelle der Erzdiözese Wien. Die Zahlen seien im Vergleich zu 2022 unverändert gewesen.

Frage: Und was bedeutet die Lage für den Silvesterpfad in der Wiener Innenstadt?
Antwort: Auch diese Veranstaltung soll von der Exekutive stärker als üblich überwacht werden, die genaue Zahl der eingesetzten Beamten wird aber auch hier nicht bekanntgegeben. (Jan Michael Marchart, Michael Möseneder, 27.12.2023)