Es ist nur ein kleines Wortspiel, doch es spricht Bände über die nach wie vor aufgeheizte Stimmung in Polen: Die angesehene liberale Wochenzeitung "Polityka" benutzt für das Verfassungsgericht in Warschau seit einiger Zeit eine Formulierung, die sich als "Nichtverfassungsgericht" übersetzen lässt – oder gar als "verfassungswidriges Gericht", wenn man so will.

Das stets um Seriosität bemühte Magazin macht das nicht, um einen satirischen Kalauer zu landen. Mittlerweile ist es auch nicht das einzige Medium, das die Formulierung verwendet. Vielmehr ist diese der Ausdruck einer tiefen Verunsicherung in Polen, bei der es um nichts Geringeres geht als um die Handlungsfähigkeit der neu gewählten Regierung von Premierminister Donald Tusk.

Demonstration gegen die PiS im März 2016
Im März 2016, kurz nach der Machtübernahme der PiS, wurde gegen die Umfärbung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens protestiert. Nun ist die PiS in Opposition und beklagt ihrerseits einen "Anschlag auf die Pressefreiheit".
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Mit der Angelobung des Kabinetts Tusk Mitte Dezember war die achtjährige Regierungszeit der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) an ihr Ende gekommen. Die PiS war bei der Wahl im Oktober zwar einmal mehr stärkste Partei geworden, hatte das Land jedoch so stark polarisiert, dass sie keine Partner hatte, um auch eine Parlamentsmehrheit zu zimmern.

Tusk hingegen, Chef der liberalen Bürgerkoalition (KO), hatte sich schon vor den Wahlen auf eine Zusammenarbeit mit dem konservativ-zentristischen Dritten Weg und der Linken (Lewica) verständigt. Nach der Regierungsbildung schien der Weg frei zu sein für eine Umorientierung des Landes, das zu PiS-Zeiten immer mehr in die europapolitische Isolation geraten war, ständig im Clinch mit Brüssel lag und in dem auch innenpolitisch – etwa durch ein extrem restriktives Abtreibungsrecht – immer wieder die Wogen hochgingen.

Schwieriger Start

Von Anfang an aber war klar, dass Tusk und sein Team keinen einfachen Start haben würden. Schon unmittelbar nach der Wahl hatte sich die PiS so lange wie möglich an die Macht geklammert. Der ihr nahestehende Präsident Andrzej Duda hatte sogar noch eine neue PiS-Regierung vereidigt, die keine Chance hatte, das Vertrauen des Parlaments zu gewinnen, und schon am Tag ihrer Angelobung als Zwei-Wochen-Kabinett verspottet wurde.

Die echten Mühen der Ebene – auch das war allen Beteiligten klar – würden aber erst danach beginnen. Zum einen kann Duda jedes Gesetz der neuen Regierung blockieren. Das Veto des Präsidenten kann nur mit einer Dreifünftelmehrheit im Sejm, der Abgeordnetenkammer des Parlaments, überstimmt werden. Von dieser aber ist Tusk, der ehemalige EU-Ratspräsident, weit entfernt. Die vielbeschworene "Rückkehr Polens nach Europa", sie würde sich also beschwerlicher gestalten als von vielen erhofft.

Ein weiterer Stolperstein für Tusk ist eben das polnische Verfassungsgericht, dessen eigene Verfassungstreue heftig umstritten ist. Immerhin hatte die PiS acht Jahre Zeit, es politisch einzufärben und auf Linie zu bringen – ein Teil jener "Justizreform", die auch immer wieder für Konflikte mit Brüssel gesorgt hatte. Dort war man um die Rechtsstaatlichkeit in Polen besorgt und hielt sogar Mittel für Polen aus den EU-Fördertöpfen zurück.

Die Regierung Tusk startete nun nicht nur mit der Sorge, dass – neben Präsident Duda – auch das Verfassungsgericht reihenweise Gesetze behindern könnte, die der PiS nicht genehm sind. Von der Institution gehen auch andere Gefahren aus, wie sich bereits an konkreten Beispielen gezeigt hat: So hat das Gericht der Regierung nach den Wahlen bereits Ausgaben auferlegt, die im alten, noch von der PiS gestalteten Haushalt gar nicht vorgesehen waren.

Streit über Verzugszinsen

Für Aufregung sorgte auch eine erst kürzlich gefällte Entscheidung, der zufolge die Verhängung von Geldbußen wegen Nichtbefolgung von einstweiligen Verfügungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) verfassungswidrig sei. Unter PiS-Kritikern gilt das als Persilschein für Ex-Premier Mateusz Morawiecki: Etwaige Verzugszinsen für nicht bezahlte Strafgelder könnten demnach der ehemaligen Regierung nicht angelastet werden, weil ja das Bezahlen verfassungswidriger Strafen in dieser Logik selbst verfassungswidrig gewesen wäre.

Wie schwierig es für Donald Tusk werden dürfte, das Gericht aus dem Schatten der Vorgängerregierung treten zu lassen, ohne sich vorwerfen lassen zu müssen, es nun seinerseits genauso zu politisieren, zeigt auch das Dauerproblem rund um die sogenannten Richterdoubles: Kurz nachdem die PiS 2015 an die Macht gekommen war, hatte sie drei Richterposten im Verfassungsgericht neu besetzt, obwohl auch die liberale Vorgängerregierung noch drei Richter ordnungsgemäß für diese Posten bestellt hatte.

Wie mit diesen "Doubles" nun umzugehen ist, daran scheiden sich die Geister. Bevor sich durch das Ende diverser Amtszeiten eine Chance auf natürliche Entpolitisierung auftut, gibt es nicht viel Spielraum für eine Lösung des Konflikts. Immerhin ist das Verfassungsgericht genau jene Institution, die über ihre eigene Legitimität richtet – und genau dadurch erst recht zum Spielball der Politik wird. Vor allem dann, wenn die Regierung Tusk es nicht der PiS am Beginn ihrer Regierungszeit gleichtun will, indem sie dessen Urteile einfach nicht im Gesetzblatt veröffentlicht und so deren Gültigkeit in Zweifel zieht.

Öffentlich-rechtliche Medien im Fokus

In den vergangenen Tagen sorgte auch der Streit über eine andere zentrale Einrichtung der Machtbalance für Kopfzerbrechen: Der neue Kulturminister Bartłomiej Sienkiewicz hatte Führungspositionen der öffentlich-rechtlichen Medien neu besetzt, die die PiS zuvor weitgehend zu Propagandasprachrohren umgebaut hatte. Die PiS-Führung sprach prompt von einem Staatsstreich und einem Anschlag auf Demokratie und Pressefreiheit. Mehrere PiS-Abgeordnete protestierten vor Weihnachten im Gebäude der Nachrichtenagentur PAP und hinderten laut einem Bericht des privaten Fernsehsenders TVN24 deren neuen Chef am Betreten seines Büros.

Video: Neue polnische Regierung wälzt Staatsmedien um.
AFP

Heftig gestritten wird auch um das öffentlich-rechtliche Fernsehen TVP: Verschiedene Gremien – ein einst von der PiS eingerichteter Nationaler Medienrat sowie ein alter und ein neuer Aufsichtsrat – wählten drei verschiedene TVP-Chefs.

Auch im Medienbereich dürfte sich eine gütliche Lösung schwierig gestalten. Die Helsinki-Stiftung für Menschenrechte erklärte zwar bereits vergangenen Freitag, "die bisherige Arbeitsweise des polnischen Fernsehens, des polnischen Rundfunks und der Presseagentur PAP widerspricht in eklatanter Weise dem, was öffentliche Medien in einem demokratischen Rechtsstaat sein sollten". Allerdings gebe es auch verfassungsrechtliche Zweifel, ob ein Regierungsmitglied die Entscheidungshoheit über die Besetzung der Führungsgremien öffentlich-rechtlicher Medien habe.

Gefragt wäre also wohl ein Machtwort des Verfassungsgerichts. Dieses aber ist derzeit eben mit sich selbst beschäftigt – und mit seiner eigenen Legitimität in der weiterhin polarisierten polnischen Gesellschaft. (Gerald Schubert, 27.12.2023)