Bye-bye, Barbie! 2023 war – zumindest im Kino und auf Social Media – das Jahr der pink gewandeten Puppe. Was wird wohl das nächste bringen?
Bye-bye, Barbie! 2023 war – zumindest im Kino und auf Social Media – das Jahr der pink gewandeten Puppe. Was wird wohl das nächste bringen?
AP

Film

1 Greta Gerwig Nicht Altmeister wie Martin Scorsese oder Ridley Scott lockten heuer die Massen ins Kino, der Ex-Indie-Regisseurin Greta Gerwig gelang mit Barbie der große Wurf. Das feministische Diskursstück heizte Debatten an, generierte mit "Barbenheimer" einen Hype und verhalf so zumindest Christopher Nolans Oppenheimer zum Überraschungserfolg.

2 Streik Die Drehbuch- und die Schauspielgewerkschaften legten die Traumfabrik monatelang auf Eis. Sie forderten bessere Vergütung im Streamingzeitalter und vertraglichen Schutz vor künstlicher Intelligenz. Als Lichtgestalt des Streiks entpuppte sich "die Nanny" Fran Drescher, die als Gewerkschaftspräsidentin kämpferische und ehrliche Worte fand.

3 Disney Das "Maushaus" wurde heuer 100 Jahre alt. Über Zeichentrick ist das 1923 gegründete Studio längst hinausgewachsen: Es zählt zu den größten Produktionsstudios Hollywoods, hat Marvel unter seinen Fittichen, seit 2019 mit Disney+ einen Streamingservice und rückt mit seinen Bemühungen um Diversität immer wieder ins Zentrum konservativer Kritik.

4 Sandra Hüller Die aus einem thüringischen Kaff stammende Schauspielerin wurde heuer vom Hollywood Reporter zur Schauspielerin des Jahres gekrönt. Warum? Ihre Darbietungen in Justine Triets Anatomie eines Falls und in Jonathan Glazers The Zone of Interest sind so grandios, dass die 45-Jährige Fixstarterin bei den Golden Globes und Oscars ist.

5 Grenzüberschreitungen Dem Schauspieler Gérard Depardieu wurden heuer von zahlreichen Frauen sexuelle Übergriffe vorgeworfen, viele spielten sich an Filmsets ab. Wegen aggressiven und alkoholisierten Verhaltens kam zudem Regie-Schauspieler Til Schweiger in die Kritik. Grenzverletzungen bei Filmdrehs werden 2024 definitiv nicht mehr geduldet.

Rekord: 650.000 Menschen besuchten die Amsterdamer Vermeer-Ausstellung.
Rekord: 650.000 Menschen besuchten die Amsterdamer Vermeer-Ausstellung.
IMAGO/ANP

Kunst

1 Besetzungen Die Bekanntgabe der künftigen Leitungen der Albertina und des Kunsthistorischen Museums galt als ein heimisches Kulturpolitik-Highlight. Ab 1. Jänner 2025 steigt Jonathan Fine, der bisherige Chef des Weltmuseums, zum KHM-Generaldirektor auf. Die Albertina übernimmt Ralph Gleis, der aktuell noch der Alten Nationalgalerie in Berlin vorsteht.

2 Ladys Blickt man auf das Museenprogramm in Österreich zurück, darf man sich an viele spannende Einzelausstellungen erinnern – primär von Künstlerinnen. Darunter Louise Bourgeois im Unteren Belvedere, Gabriele Münter im Leopold-Museum, Mária Bartuszová im Museum der Moderne Salzburg, Valie Export in der Albertina oder Elisabeth Wild im Mumok.

3 Wiedereröffnung Das Anfang Dezember nach drei Jahren Umbau wiedereröffnete Wien-Museum lockte bereits in den ersten Tagen über 10.000 Besucher und Besucherinnen an. Neben der interessanten Architektur, dem Gastro-Angebot und der öffentlichen Terrasse soll die niederschwellige Dauerausstellung bei freiem Eintritt möglichst viele ansprechen.

4 Vermeer Als ein Höhepunkt des internationalen Kunstkalenders galt die bisher größte Werkschau des niederländischen Meisters Johannes Vermeer im Rijksmuseum in Amsterdam. Noch nie waren so viele seiner Gemälde an einem Ort versammelt gewesen – insgesamt waren es 28. Die Ausstellung war binnen kurzer Zeit ausverkauft, der Andrang enorm.

5 Schlagzeilen Das British Museum in London stand gleich zweimal in der Kritik: Im August wurde bekannt, dass 2000 Objekte aus der Sammlung gestohlen und teils zerstört worden waren. Im November kam es zu Diskussionen zwischen London und Athen bezüglich des Parthenon-Frieses. Großbritannien sträubt sich bislang gegen eine Rückgabe der Raubkunst.

Tonio Schachinger gewann heuer breitenwirksam den deutschen Buchpreis.
Tonio Schachinger gewann heuer breitenwirksam den deutschen Buchpreis.
IMAGO/Hannelore Foerster

Literatur

1 Lesestoff Liebes Arschloch von Virginie Despentes und Bret Easton Ellis’ The Shards dürfen in einer Hitlist der Neuerscheinungen ebenso wenig fehlen wie Maxim Billers Mama Odessa,Tess Guntys Der Kaninchenstall, Clemens J. Setz’ Monde vor der Landung oder Olga Tokarczuks Empusion. Wahrhaft vergnüglich: Colson Whiteheads Blaxploitation-Krimi Die Regeln des Spiels.

2 Autobiografien 2023 war ein Jahr der Rückschauen, mit denen Stars und Sternchen sich erklären und ihre Version der Geschichte erzählen wollten. Los ging's mit Prinz Harrys Reserve, darauf folgten Elliot Pages Pageboy, Paris Hiltons Mein Leben und Britney Spears' The Woman in Me. In den ersten drei genannten Fällen glückte das erzählerisch erstaunlich gut!

3 Endlich! Vierzig Jahre nach dem Original ist Toni Morrisons grandiose Erzählung Rezitativ in deutscher Übersetzung erschienen (Rowohlt). Eine Wucht! Auf seinen bloß 96 Seiten (inkl. Zadie Smiths Nachwort) verrät der Text mehr über unser aller Rassismus als so mancher Wälzer. Erzählt wird von zwei Freundinnen ungleicher Hautfarbe – nur wer ist wer?

4 Künstliche Intelligenz Schon länger werden KIs an Literatur trainiert, die Buchbranche hat sich heuer in die Auseinandersetzung damit begeben: Autoren klagen gegen Firmen wie OpenAI. Der Onlinehändler Amazon erließ Regeln für den Umgang mit KI-generierten Büchern, und allmählich zieht der Begriff in Buchverträge ein: Darf KI ein Manuskript bearbeiten?

5 Heimische Erfolge Die Pleite des Auslieferers Medienlogistik ließ das Jahr für heimische Verlage nicht gut starten. Aber als Gastland auf der Leipziger Buchmesse hat Österreich mit einem beispiellos umfassenden Programm alles von Krimi bis Poesie gezeigt. Ein Fall für die Annalen ist auch der Deutsche Buchpreis für Echtzeitalter des Wieners Tonio Schachinger.

Dragqueen Freya van Kant sorgt mit einer Lesung vor Kindern für Wirbel.
Dragqueen Freya van Kant sorgte mit einer Lesung vor Kindern für Wirbel.
APA/EVA MANHART

Debatte

1 MeToo Nichts erregte 2023 hierzulande mehr als der Umgang des Rammstein-Sängers Till Lindemann mit weiblichen Fans. Zwar ließen sich die Vorwürfe des Missbrauchs mittels Drogenzufuhr nicht beweisen, das zutage getretene Sittenbild der Band war schlimm genug. Aber auch manche grüne Kritikerinnen offenbarten eine fragwürdige Rechtsauffassung.

2 Nahostkrieg Der Schock, den der barbarische Hamas-Anschlag vom 7. Oktober ausgelöst hat, sät auch Zwietracht unter den Intellektuellen. Die vielfach kritische Haltung gegenüber dem Gaza-Feldzug der IDF (israelische Streitkräfte) führte wiederholt zu Ausladungen palästinafreundlicher Künstlerinnen und Dichter durch bundesdeutsche Institutionen.

3 Teichtmeister Das vor Gericht wiederholte Geständnis des Burgschauspielers Florian Teichtmeister, Darstellungen kinderpornografischen Inhalts regelrecht gehortet zu haben, sorgte für Fassungslosigkeit. Bedrückend empfand man nicht nur das Exempel für Sucht – auf Kosten Schutzloser. Moniert wurde die Bedenkenlosigkeit mancher involvierter Institutionen.

4 Diverse Geschichten Im Frühjahr hielt die Lesung der Dragqueen Freya van Kant vor Kindern in der Türkis Rosa Lila Villa an der Linken Wienzeile Rechte und Identitäre als auch die LGBTIQ+-Community in Atem. Sie wolle, dass alle Kinder "sich in Geschichten wiedererkennen und gemeint fühlen", erklärte die Vortragende ihr Engagement. Weiter so!

5 Kultur vs. Politik Die neuen schwarz-blauen Landesregierungen versetzten erst die Kulturszene in Niederösterreich, dann in Salzburg in Aufregung. Autorin Eva Rossmann nahm einen Preis nicht an, Salzburgs Festspiel-Intendant Markus Hinterhäuser geriet sich mit Schauspieler Cornelius Obonya in die Haare. 2024 wird im Bund gewählt – ob das weiteren Stoff gibt?

"Szenen einer Ehe" in der Regie von Markus Öhrn am Volkstheater Wien.
Marcel Urlaub

Theater

1 Komödienhit Regisseurin Anita Vulesica hat mit dem Schwank Der Raub der Sabinerinnen den Burlesk-Vogel des Kalenderjahres abgeschossen. In ihrer gleichwohl krachenden wie komplexen Komödie lässt sie im Akademietheater das Ensemble nur so glänzen. Man kann die himmelschreiende Manöver rund um die Striese & Striese Company auch nach Monaten einfach nicht vergessen.

2 Kanon-Befragung Bisher auf Bühnen nicht repräsentierte Sichtweisen werden zunehmend eingefordert. Dahingehend sind zwei Inszenierungen 2023 besonders gelungen. Das Theater Hora drehte in Der kaukasische Kreidekreis bei den Salzburger Festspielen die Mutter-Frage entschieden weiter. Das Schauspielhaus Graz glänzte mit der Entdeckung von Christiane K. Schlegels Von einem Frauenzimmer.

3 Formensprache Das auf der Bühne Auszudrückende verlangt stets nach neuen Erzählweisen und Formaten. Auf bemerkenswerte Weise hat der französische Regisseur Julien Gosselin bei den Wiener Festwochen Arthur Schnitzler und Thomas Bernhard zu einer österreichischen Untergangsfantasie verlinkt. Extinction war Rave, Filmtheater und Schauspiel in einem – aus Technik wurde Magie.

4 Jedermann-Gate Schlechter kann man es kaum angehen, ein im Saft stehendes Theaterensemble vor die Tür zu setzen. Das PR-Desaster im Zuge der überraschenden Neubesetzung des Jedermann bei den Salzburger Festspielen war im Herbst ein großes Thema. Und auch wenn die Entscheidungsträger kalmieren, bleibt ein tiefer Kratzer, der im Sommer 2024 nicht ganz vergessen sein wird.

5 Darstellung von Gewalt Wie Gewalt darstellen, ohne sie selbst auf der Bühne zu reproduzieren (wie es oft geschieht)? Eine ureigene Angelegenheit des Theaters. Auf herausragende Weise löste Markus Öhrn das Dilemma in seiner Neuinszenierung von Ingmar Bergmans Szenen einer Ehe, das am Volkstheater weiter im Repertoire läuft (mit englischen Übertiteln).

Ist eh sonst überall: Taylor Swift verdiente mit ihrer Eras-Tour über eine Milliarde Dollar.
Ist eh sonst überall: Taylor Swift verdiente mit ihrer "Eras"-Tour über eine Milliarde Dollar.
AP/George Walker IV

Musik

1 Intensiv Mit Glorious Game veröffentlichten Black Thought / El Michels Affair ein Sample-intensives Hip-Hop-Album, das reinging wie wenig sonst. Die britische Musikerin VV Brown kehrte nach einigen Jahren Absenz vom Geschäft mit dem Album Am I British Yet? wieder und verbindet eindrucksvoll Gesellschaftskritik mit Hip-Hop, Pop, Gospel oder Reggae.

2 Top Die Wiener Band Naked Cameo hat mit ihrem zweiten Album Trespassing By die Erwartungen nach ihrem tollen Debüt übererfüllt. Ein Glücksfall einer Band. Gabriels haben mit ihrem endlich gesamt erschienenen Debüt Angels & Queens dasselbe getan: wuchtiger schwarzer Pop mit Gospel-Breitseite und Jacob Lusk als Stimme Gottes am Mikrofon.

3 Haltet ein! In einer Welt der Kriege, Krisen und Skandale ist es angebracht, dem Bösen mit ernsten Konsequenzen zu drohen. Extremsängerin Lingua Ignota nennt sich jetzt Reverend Kristin Michael Hayter. Auf ihrem tollen apokalyptischen Gospelalbum Saved! stellt sie uns die Rute ins Fenster: All of My Friends Are Going to Hell. Brav sein!

4 Klagenhagel Mit Ein fragiles System hat die heimische Band Bipolar Feminin ein Album des Jahres veröffentlicht. Zu schepperndem Indierock im Stile der frühen Tocotronic singt Leni Ulrich fuchtig gegen die Umstände, speziell auch Mansplaining, an: "Ich verstehe sie nicht falsch, ich könnte einfach kotzen!" Die Kunst der Beschwerde, sie lebe hoch.

5 Subtil! Zum Jahresfinale bescherte das Musiktheater zwei Highlights: An der Staatsoper formte Claus Guth Puccinis Turandot dank Asmik Grigorian zum subtilen Psychodrama. Die Volksoper stellte sich mit Lass uns die Welt vergessen wiederum mutig der eigenen NS-Geschichte. Der Verlust 2023? Meisterperkussionist Martin Grubinger hat seine Karriere beendet. (Valerie Dirk, Katharina Rustler, Michael Wurmitzer, Ronald Pohl, Margarete Affenzeller, Karl Fluch, Christian Schachinger, Ljubiša Tošić, 28.12.2023)