Vor dem 7. Oktober dominierte sie Israels Geschehen wie kein anderes Thema: die umstrittene Justizreform der rechtskonservativen Regierung unter Benjamin Netanjahu. Nun könnte der bereits beschlossene Teil der Reform bald vom Höchstgericht in Jerusalem gekippt werden: Das berichtet der israelische TV-Sender Kanal 12, dem die geleakten Abfassungen der Höchstrichter vorliegen.

Es wäre ein Erdbeben in Israels Demokratiegeschichte: Erstmals würde der Oberste Gerichtshof ein Grundgesetz außer Kraft setzen. Davor war die Justiz bis jetzt zurückgescheut. Regierungen konnten sich somit der Kontrolle des Höchstgerichts entziehen, indem sie ein Gesetz nicht als "einfaches" Gesetz beschlossen, sondern als Grundgesetz titulierten – ein Prozess, der in der österreichischen Gesetzgebung Gesetzen im Verfassungsrang ähnelt.

Wofür in Österreich aber eine Zweidrittelmehrheit nötig ist, dafür reicht in Israel eine einfache Stimmenmehrheit im Parlament. Die Koalition kann also das Grundgesetz ändern, ohne Abgeordnete der Opposition von ihrem Anliegen überzeugen zu müssen.

Knappe Entscheidung

Laut dem Leak sind acht von 15 Höchstrichtern der Meinung, dass das Grundgesetz gekippt werden muss, sieben sprechen sich dagegen aus. Es gibt demnach also eine knappe Mehrheit für die Aufhebung der Reform.

Jedes Mitglied des Richtersenats hat eine eigenständige Begründung der persönlichen Entscheidung verfasst, diese 15 Texte liegen nun offenbar Kanal 12 vor. Die Justiz bestätigt den Bericht nicht und verweist auf die offizielle Publikation der Entscheidung, die im Lauf der kommenden zwei Wochen erfolgen muss.

Müll und Faschismus mussten bei den Demonstrationen gegen Premier Benjamin Netanjahu und dessen Justizreform im Sommer als Slogans herhalten.
EPA/ABIR SULTAN

In den ersten neun Monaten des Jahres hatte die Justizreform einen tiefen Spalt durch Israels Gesellschaft gezogen. Hunderttausende Menschen schlossen sich den Protesten gegen den Justizumbau an, zahlreiche Reservisten drohten der Armee mit Dienstverweigerung. Die Koalition war entschlossen, das Höchstgericht unter Regierungskontrolle zu bringen. Im Juli brachte sie den ersten Teil der Reform trotz massiver Proteste durchs Parlament: Dieser erste Abschnitt der Reform ermöglicht es den Behörden, bestimmte Entscheidungen der Kontrolle der Gerichte zu entziehen.

Eine Frage der Zuständigkeit

Seit dem Überfall der Hamas, dem Massaker und dem Krieg, der darauf folgte, ging das Thema unter. Die 15 Richter des Obersten Gerichtshofs waren jedoch mit der schwierigen Frage beschäftigt, ob sie den ersten Teil der Reform revidieren. Nun eben scheint es eine knappe Mehrheit für die Aufhebung des Grundgesetzes zu geben.

Die scheidende Präsidentin des Höchstgerichts, Esther Hayut, wird im Bericht mit klaren Worten zitiert. Die Justizreform stelle einen schweren Eingriff ins demokratische Gefüge dar, "sie hätte daher im Zuge einer breiten Meinungsfindung beschlossen werden sollen", und nicht mit einer schlichten Koalitionsmehrheit. Gegenstimmen im Richtersenat üben laut dem Bericht zwar Kritik an der Justizreform selbst, halten es aber für die Aufgabe der Knesset, Grundgesetze zu ändern – der Gerichtshof sei dafür nicht zuständig.

Likud argumentiert mit Krieg

Aus Netanjahus Regierung kam prompte Ablehnung. Justizminister Jariv Levin warf dem Gerichtshof vor, die Nation inmitten des Kriegs "in Streitigkeiten zu zerreißen". Simcha Rotman, der Vorsitzende des Verfassungsausschusses, erklärte die mutmaßliche Höchstgerichtsentscheidung zum "Akt der nationalen Verantwortungslosigkeit".

Ein Sprecher der Justiz distanzierte sich von der Veröffentlichung. "Wir beobachten solche unrechtmäßigen Leaks mit größter Besorgnis", erklärte er.

Bis spätestens 12. Jänner muss die schriftliche Entscheidung vorgelegt werden. Dass sich bis dahin noch etwas an den Mehrheitsverhältnissen ändern wird, ist unwahrscheinlich, aber nicht ganz ausgeschlossen. Es kam in der Vergangenheit bereits vor, dass sich Höchstrichter ihr Urteil gebildet hatten, sich nach der Lektüre der anderen Entscheidungen aber von den Argumenten der Gegenseite überzeugen ließen.

Dass das auch diesmal der Fall sein wird, ist insofern wenig wahrscheinlich, als sämtliche Argumente in der öffentlichen Verhandlungen bereits ausführlich dargelegt wurden. Zudem handelt es sich um eine Entscheidung von solch großer Tragweite, dass die einzelnen Mitglieder des Gerichtssenats sich in den dreieinhalb Monaten seit der Verhandlung ihren Standpunkt wohl gut überlegt haben.

Wie wird die Regierung mit der Entscheidung umgehen? Trotz aller Scharfmacherrhetorik ist eher nicht zu erwarten, dass die Koalition auf dem Beschluss beharrt und dadurch eine akute Verfassungskrise heraufbeschwört. Schon jetzt liegen die Beliebtheitswerte der Koalitionsparteien im nahezu unterirdischen Bereich. Angesichts des Gazakriegs und der akuten Gefahr, dass die Eskalation im Norden in einen veritablen Krieg umschlagen könnte, hat die Koalition wohl wenig Interesse, noch eine zusätzliche innenpolitische Front zu eröffnen. (Maria Sterkl aus Jerusalem, 28.12.2023)