Neue One Love Kapitänsbinde
Wo stehst du? Eine Frage, die sich im Kulturbetrieb vermehrt stellt, nicht nur bezüglich der One-Love-Armbinde.
IMAGO/Schüler

Wo stehst du mit deiner Kunst, Kollege? heißt ein Bild von Jörg Immendorff von 1973. Es zeigt einen Künstler, der einen anderen Künstler zur Solidarität mit der demonstrierenden Arbeiterschaft auffordert. Die Schriftstellerin Eva Menasse sagte in einem Interview im Falter: "Diese Bekenntniswut hat es früher nicht gegeben." Und heute? Bist du solidarisch mit Israel, Kollege? Bist du für ein freies Palästina, Kollegin?

Politische Stellungnahmen

Als ich diesen November in Utrecht ein Musikfestival besuchte, rief während eines Konzerts der libanesischen Band Sanam ein Besucher in eine Pause hinein: "Free Palestine!" Der Slogan wurde prompt auf der Bühne wiederholt. Was heißt "Free Palestine"? Beim Konzert des ugandischen Tribal-Industrial-Acts Nihiloxica zischelte dann auch noch ein in fiesen Geräuschen gut eingebettetes Sample: "terror state Israel". Auf einer Demo in Berlin konnte man hingegen auch den Satz lesen: "From the River to the Sea, We Demand Equality." Das Schild wurde von einer jüdischen Israelin hochgehalten.

Die nämliche Botschaft war ein Fall für die Berliner Polizei. Sie konfiszierte das Plakat. Die Staatsräson und weite Teile der Öffentlichkeit fordern im Täterland Deutschland eine Haltung, die mit Israel solidarisch ist. Die rechtsliberale Zeitung Die Welt hat bekannte Schauspieler angerufen und sie dazu aufgefordert, sich von der Hamas zu distanzieren. Jürgen Habermas verfasste gemeinsam mit Kollegen eine Stellungnahme, in der der israelische Militärschlag als prinzipiell gerechtfertigt dargestellt und zur Solidarität mit Israel und jüdischen Menschen aufgerufen wird.

Positionierungsgebot

Habermas folgt damit den Grundzügen der Regierungspolitik in Berlin. Schon 2019 hatte der Deutsche Bundestag beschlossen, die internationale Bewegung BDS (Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen) zu ächten und als antisemitisch einzustufen. BDS setzt sich für den Boykott israelischer Künstler und Wissenschafter und die Aufkündigung von Handelsbeziehungen ein.

Viele Kunstschaffende nicht nur aus dem sogenannten Globalen Süden sind entweder offene Befürworter von BDS oder gelten als solche – von Kae Tempest bis Brian Eno, von Teilen des in Misskredit geratenen Documenta-Leitungskollektivs Ruangrupa bis zu Ken Loach. Im Dezember 2020 veröffentlichten die Leitungen zahlreicher Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen in Deutschland einen Aufruf, der einerseits den Boykottversuch Israels durch BDS ablehnt, zugleich aber auch die Logik der Ausgrenzung durch die Bundestag-Resolution gegen alle BDS-Sympathisanten zurückweist und sich für "Weltoffenheit" einsetzt.

Schweigen

Nach dem 7. Oktober haben vereinzelte Unterzeichner dieser Initiative ihre Unterschrift wieder zurückgezogen. Viele andere schweigen lieber, bevor sie sich in die Nesseln setzen. Die Frage, wer sich wie wozu wann bekennt, bestimmt die Atmosphäre 2023 mehr denn je. Positionen werden erklärt und einverlangt. Mit Folgen. Seien es affektgeladene Schnellschüsse in den gegenwartsfixierten sozialen Medien oder möglichst bedachte Grundsatzerklärungen – das Positionierungsgebot führt gerade in der Kulturlandschaft zu einer Flut von Absagen, Ausladungen, Distanzierungen, Boykotten, Boykottaufrufen und zur Aufkündigung von Kooperationen. Eine BDS-nahe Initiative im Netz bewertet die Haltung von Kulturinstitutionen zum Nahostkonflikt. Andere sprechen von schwarzen Listen, die im Netz herumgeistern.

Bemerkbar machte sich der Bekenntnisdruck schon zu Beginn des Jahres. Erinnert sich noch jemand an die One-Love-Armbinden-Idee der Deutschen bei der Fußball-WM in Katar? Und wie hältst du es mit den Waffenlieferungen für die Ukraine? Auch anhand dieses Konflikts konnte man sehen, wie sich im Westen die Fronten verhärten, während ein großer Teil des Rests der Welt dazu schweigt und Russland nicht sanktioniert. Die Initiative "Cancel Russia" geht davon aus, dass eine Dekolonisierung Russlands nur durch den Boykott der russischen Kultur möglich ist. Die Kiew-Biennale in Wien hat den Wunsch nach einem Ausschluss russischer Teilnehmer, seien sie noch so regimekritisch, schon in ihrer Planung erfahren.

Empörungsfeuer

Ob Ukrainekrieg oder Nahostkonflikt: Jedes Wort beziehungsweise auch die Abwesenheit von Worten kann zum Verhängnis werden. Der westliche Liberalismus zeigt der postkolonialen Linken die rote Karte und tut so, als ob nun endlich der Verdacht bestätigt wäre, dass es außerhalb des Westens an Aufklärung und Vernunft mangle.

Die Linke selbst erscheint gespalten. Das Empörungsfeuer der offenen Briefe offenbart eine Kultur des Verdachts. Watchdogs der Wahrheit lauern auf den Fehler, dessen Urheber man an den öffentlichen Pranger stellen kann. Und der Fehler findet sich – gerade angesichts der weit ausgreifenden Verwerfungen des Nahostkonflikts – fast immer wie bestellt. Judith Butlers Brief "Philosophy for Palestine" wird die mangelnde Verurteilung der Hamas vorgeworfen, Jürgen Habermas die Zurückweisung der Möglichkeit genozidaler Auswirkungen des Gaza-Kriegs, der frischen Hannah-Arendt-Preis-Trägerin Masha Gessen der "Ghetto"-Vergleich von Gaza.

Frage des Kontexts

Auch die Präsidentinnen dreier US-Eliteunis sollten zu öffentlichen Bekenntnissen bewegt werden. Sie wichen aber bei den Anhörungen, die man auch im Kontext der systematischen Stimmungsmache der Republikaner gegen die "linken" Universitäten verstehen muss, der eingeforderten Verurteilung des Aufrufs zum Völkermord mit einer auf den ersten Blick empörenden Begründung aus: "Das kommt auf den Kontext an."

Das fraglos empathielos daherkommende Argument wird jedoch in der Sache plausibler, wenn man weiß, dass hier auch die juridisch in den USA fest verankerte Redefreiheit an den Universitäten gegen die vorgeblichen Einschränkungen durch Sprachregeln mitverhandelt wird (die selbst wiederum einst vor allem gegen Hassreden inthronisiert wurden).

Krass ist auch der Fall des Leiters der Kurzfilmtage Oberhausen, Lars-Hendrik Gass. Gass rief am 20. Oktober zu einer proisraelischen Demonstration auf und postete auf dem offiziellen Facebook-Account des Festivals: "Zeigt der Welt, dass die Neuköllner Hamasfreunde und Judenhasser in der Minderheit sind. Kommt alle! Bitte!" Bald war Gass im Netz mit einer von tausenden Menschen unterzeichneten Erklärung konfrontiert, die seinen Rücktritt oder den Boykott des Festivals forderten. Wird Oberhausen nun zu einem lokalen Filmfestival mutieren, weil die internationalen Gäste ausbleiben?

Thomas Edlinger
Thomas Edlinger, geb. 1967, ist Journalist, Buchautor, Radiomacher (FM4) und Leiter des Donaufestivals in Krems. Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine adaptierte Fassung eines Texts, den Edlinger für die FM4-Sendung "Im Sumpf" verfasste.
Heribert Corn

Phänomen Wir-Bildungen

Ein ähnliches Schicksal der Selbstprovinzialisierung aufgrund der Verwerfungen um diverse Antisemitismusvorwürfe erwarten Fachleute auch für die bislang immer noch bedeutendste Weltkunstschau, die Documenta in Kassel. Gass sprach in einem Interview zu dem Fall von einer "Identitätspolitik des Globalen Südens" – was immer das auch genau sein soll. Identität kann aber tatsächlich zu einer Falle werden. "Wir zuerst" nennt Bernd Stegemann das Credo von Identität. Wir-Bildungen werden noch stärker, wenn man auf sie zurückgeworfen wird – zum Beispiel im Falle von Krieg und Terror, Vertreibung und Benachteiligung.

"Nur wir", so könnte man das politische Ziel der islamistischen Vernichtungsfantasien des Iran, der Hamas oder der Hisbollah bezeichnen. Mit "nur wir" könnte man aber auch die Umsiedlungspläne rechtsnationalistischer Regierungspolitiker in Jerusalem übersetzen, die von einem Großisrael ohne Araber träumen, von einem rein jüdischen Staat "From the River to the Sea". Egal welche Vergleiche die einen ziehen und welche die anderen für skandalös halten, eines ist klar: Die Situation in Gaza, im Westjordanland, in Nordisrael wird jeden Tag schlimmer.

Vorwand für Exklusion

Der merklich erschütterte israelisch-deutsche Philosoph Omri Boehm sagte in einem Interview mit dem Spiegel: "Die Logik der Entmenschlichung kennt bloß ein Ziel: Es wird nur ein Volk bleiben. Die einen oder die anderen." Boehm gilt auch als ein scharfsinniger Reanimateur einer alten, in Verruf geratenen Idee. Die Idee war der Universalismus. Universalismus gilt heute vielen nur mehr als westlicher Vorwand für Exklusion, als Sonntagsrede derer, die sich jene Freiheit nehmen, die sie anderen verwehren.

Und trotzdem: Wenn es das Ideal der Gleichheit nicht gebe, wüssten wir gar nicht, was am Rassismus falsch sein soll, sagt Omri Boehm. Vielleicht kann man den Universalismus auch in der Erfahrung des Leids starkmachen. Opfer können Täter werden, Täter können Opfer werden. Aber kein Toter wird wieder lebendig, kein Trauma jemals bewältigt, wenn andere leiden und sterben.

Sieg der Herzen

"Ein Sieg der Herzen gegen ihre Neigung zu Rache, Hass und Verzweiflung": Mit diesen Worten zugunsten einer Friedensinitiative von Israelis und Palästinensern beendete Leonard Cohen das Abschlusskonzert seiner letzten Tournee in Israel 2009. Auch während des Jom-Kippur-Kriegs 1973 trat er in Israel auf – vor Soldaten.

Im Song Lover Lover Lover sang Leonard Cohen, der in jener Zeit notierte, "kämpfen und sterben" zu wollen, ein einziges Mal diese zusätzlichen Zeilen: "Ich ging hinunter in die Wüste / um meinen Brüdern beim Kampf zu helfen / Ich wusste, dass sie nicht im Unrecht waren / Ich wusste, dass sie nicht im Recht waren." (Thomas Edlinger, 29.12.2023)