Johanna Sebauer empfiehlt Gianna Molinari
"Ein Dorf wehrt sich gegen das Verschwinden. Die Geschichte ist das haargenaue Gegenteil dessen, was ich in meinem Debütroman erzähle. Da war ich natürlich sofort neugierig, wie Gianna Molinari da rangeht. Nun ja: Sie zaubert! Es ist ein wunderschönes Buch. Leise, aber mächtig. Mit poetischer, präziser Sprache erzählt es so viel mehr als das, was tatsächlich dasteht. Man findet Sätze darin, so schön, dass man sie mehrmals liest und sich insgeheim wünscht, sie wären einem selbst eingefallen."
Luca Kieser empfiehlt Cornelia Hülmbauer
"In einer Kette aus kurzen Szenen wird hier das Panorama einer Jugend auf dem Land entworfen: 80er-Jahre, Niederösterreich, eine Autowerkstatt an der Bundesstraße, die Familie, die Mechaniker ... und dazwischen ein Mädchen. Das alles ist geschrieben von einer Lyrikerin. Und gerade weil hier jedes Wort mit poetischer Behutsamkeit gesetzt ist, kann man in oft manchmal nie versinken. Ich habe es in der Badewanne weggesnackt."
Anna Kim empfiehlt Anna Neata
"Ich bin dem Roman das erste Mal begegnet, als er gerade halb so lang war, wie er jetzt ist; vielleicht ist er mir deshalb so ans Herz gewachsen. Anna Neatas Packerl wird als Familienroman verkauft, aber er ist viel mehr als das: Er ist vor allem eine Kritik an den hiesigen Strukturen, die Frauen die Entscheidung erschwert, sich für (oder gegen) eine Abtreibung zu entscheiden – nicht zuletzt durch seinen ungewöhnlichen Aufbau, der Verbindungen von der NS-Zeit bis in die Gegenwart aufzeigt."
Arad Dabiri empfiehl Necati Öziri
"Dreihundertvier Seiten später, und ich habe unzählige Leben an mir vorbeiziehen sehen. Das meiner Eltern, derer Eltern, Freunde, Bekannte, Fremde und sogar meine eigene Geschichte. Rohe, laute Gewalt – zarte, leise Einfühlsamkeit. Direkt unter die Haut, rein in das (post)migrantische Herz: Es schlägt schneller, lauter, gefährlicher – ich konnte und kann es auch heute noch spüren. Keine Prosa, vielmehr: literarisches Erwachen. Achtung, Pathos: ein Buch, das all unsere Leben überdauern wird."
Clemens Setz empfiehlt Barbi Marković
"Mein Lieblingsbuch 2023 war Minihorror von Barbi Marković. Mini und Miki begegnen einer Reihe von Monstern und Katastrophen. Alle aus dem Horrorgenre bekannten Möglichkeiten der Verwandlung des Alltags in verschiedene Aspekte der Hölle stoßen ihnen zu, und was unter der Hand der meisten Schreibenden höchstens zu anmutigem Klamauk geraten würde, wird bei Barbi Marković zu bewegender, fuchsschlauer Poesie, voller Zartgefühl, Weisheit und geradezu anarchischer Menschenliebe."
Romina Pleschko empfiehlt Ottessa Moshfegh
"Nach Mein Jahr der Ruhe und Entspannung von Ottessa Moshfegh (ebenfalls ganz große Empfehlung!) habe ich unruhig und gespannt auf ihr neuestes Werk gewartet und wurde nicht enttäuscht. Lapvona erzählt in mittelalterlich anmutendem Setting die Geschichte einer grausamen Feudalherrschaft, der Roman handelt von Status und Fatalismus, Glaube und Lügen, Betrug und Selbstbetrug. Durchaus tauglich zum Eskapismus beim Lesen, erinnert er dann doch immer wieder an aktuelle Zustände, und trotz teilweise sehr explizit deftigen Inhalts scheint regelmäßig subtiler Humor durch, was ich persönlich sehr schätze."
Johanna Grillmayer empfiehlt Zadie Smith
"London, 1873: Eliza Touchet führt ihrem Cousin, einem Dichter, den Haushalt, zieht seine Töchter groß und trauert um eine verlorene Liebe. Nebenbei verfolgt sie den Gerichtsprozess um einen Erben (oder Hochstapler) und den früheren Sklaven, der ihn begleitet. Zadie Smith zeichnet ein plastisches Bild der schöngeistigen englischen Gesellschaft, plus Misogynie und Verschwörungstheorien. Bis die Perspektive wechselt, die glänzende viktorianische Medaille kippt und ihre furchtbare Rückseite offenbart."
Tonio Schachinger empfiehlt Samuel Hamen
"Unter jüngeren deutschsprachigen Autoren sind in naher, dystopischer Zukunft spielende Romane längst ein Allgemeinplatz geworden. Sie dienen meist auf sehr banale Art dazu, etwas über die Gegenwart zu sagen, und klingen soziologisch-blutleer. Ganz anders Samuel Hamens Roman, der in seine von einem melancholischen Grundton getragene Dystopie eine beinahe klassische Detektivgeschichte mischt und in diese eine kühle, widersprüchliche und dennoch ernsthafte Liebesgeschichte. Ein ganz besonderes Buch."
Birgit Birnbacher empfiehlt Matthias Gruber
"Dieses Buch ist ein bisschen wie Zauberei. Zuerst habe ich gedacht, da erzählt einfach eine zutiefst sympathische Stimme aus einem mehr oder weniger besonderen Leben, aber dann wird schnell klar, dass der Autor mit ungewöhnlichen Motiven künstlerisch konsequent anspruchsvoll bleibt, ohne dass er dabei bemüht wirkt. Gerade bei literarischen Debüts ist es doch immer spannend, womit jemand beginnt. Bei Gruber ist es besonders angenehm, dass er sich nicht um sich selbst dreht, sondern schreibt, weil es da eine Geschichte gibt, die erzählt werden soll. Er tut das literarisch und menschlich mit Haltung. Dieses Buch war vom Anfang bis zum Ende ein Genuss: mein persönliches Jahreshighlight."
Irene Diwiak empfiehlt Anna Herzig
Mir ist dieses Jahr besonders Anna Herzigs 12 Grad unter Null in Erinnerung geblieben: eine Dystopie, in der Männer im Falle einer Trennung oder auch einfach nur so von Frauen ihre "Schulden" zurückverlangen können, also all das, was der Mann in die Frau investiert zu haben glaubt. Feministische Themen sind immer gut, was ich bei diesem Buch aber fast noch spannender finde, ist die ganz eigene, eigenwillige Sprache. Liebe Theaterleute da draußen, dieser Text verdient eine Bühne!
Stefan Kutzenberger empfiehlt Benjamín Labatut
"Der chilenische Schriftsteller Benjamín Labatut hat in englischer Sprache ein düsteres Werk über den ungarischen Mathematiker John von Neumann geschrieben. Dieser emigrierte 1933 in die USA, wo er den modernen Computer miterfand, ein wichtiger Teil des Manhattan-Projekts wurde und die KI vorwegnahm. Es ist äußerst reizvoll, wie in diesem grandiosen Roman die streng rationale Sicht der theoretischen Mathematik auf das Terrain des Deliriums, des Irrationalen trifft."
Karin Peschka empfiehlt Srečko Kosovel
"'Weiße Aeroplane sanft | kreisen sie im Blau. | Wer, Wer? Wohin, Wohin | Das sind meine Erinnerungen.' Srečko Kosovel starb 1926 mit 22 Jahren. Er hinterließ 1400 Gedichte, dazu Prosatexte, Notizen, Briefe und vieles mehr. Ludwig Hartinger lernte "in slowenischen Wortlandschaften" die Sprache des jung verstorbenen Dichters. Und wurde für seine herausragenden Kosovel-Übersetzungen mit dem Fabjan-Hafner-Preis 2023 ausgezeichnet. Sein Buch ist pure Begegnung. Mit Srečko Kosovel, mit dem Karst."
(29.12.2023)